Jelzins Slums

■ Gerd Ruge wieder in Rußland unterwegs, 20.15, ARD

Wenn Gerd Ruge unterwegs war, dann erwartet uns ein Kommentar zur Zeit, zum Leben, zur Zukunft des Landes, das er bereist hat. Weniger von den Machthabern oder Ruge selbst formuliert, sondern von BürgerInnen, die Ruge zu Dutzenden auf der Straße anspricht, denen er nach Hause folgt oder die er dort aufstöbert. Und alle geben bereitwillig Auskunft, so, als hätten sie darauf gewartet, endlich einmal im Westfernsehen ihre Meinung zu sagen.

Das Meinungsbild ist disparat wie ganz Rußland, das Ruge zum vielleicht hundertsten Mal bereist hat, vom 14. bis 24. November, also rund drei Wochen vor den ersten russischen Parlamentswahlen. Diesmal hat er sich „Jelzins Land“ vorgenommen: die Region Swerdlowsk am Ural, Rußlands größtes Industriegebiet. Hier kommt Jelzin her, aus der Hauptstadt Jekatarinburg, und hier hat er bereits jahrelang als Parteichef und Bauherr das Sagen gehabt, bevor er nach Moskau ging. Viele sind hier auf seiner Seite, aber genauso viele sind skeptisch. Ruge läßt sie alle ihre Ansichten vertreten: Kommunisten (die jetzt Konservative heißen), Faschisten (mit sehr argen Ansichten über die Morde von Solingen), Reformer. Aber auch Aktionäre wider Willen: langgediente Fabrikarbeiter, die nun ein paar Anteile ihres Betriebs besitzen, aber nicht genau wissen, wozu das gut sein soll – zumal die Aktienmehrheit einige Banken aus Moskau und Petersburg halten und die Arbeiter weiterhin auf ihre Löhne warten. Umwandlungskrise in der größten Fabrik der Region.

Dann immer wieder Bilder von den Lebensumständen, von slum- artigen Baracken, in denen etwa eine Lehrerin und eine Kellnerin seit anderthalb Jahrzehnten hausen. Von den Wahlen versprechen sie sich nichts. Den „Versuch einer Region, Normalität herzustellen“, nennt Ruge all die Bemühungen, trotz Geld- und Wohnungsnot neben der Arbeit auch noch zu leben, wobei sich die Russen gerne des Angebots aus dem Westen bedienen. Der größte Filmverleih hat ausschließlich US-Filme im Angebot, Sex und Crime vor allem, und die neuen Luxusrestaurants bieten Striptease inklusive. Erstmals findet in den Schulen Aufklärung statt, Ruge ist dabei. Auch das Organisierte Verbrechen spricht er an, am Beispiel eines Casinos, eines völlig ungenierten Mordes und einer Mafia-Beerdigung.

Politik und wie sie sich auswirkt oder eben nicht: das war seit jeher Ruges Thema, dafür hat er gerade den „Staatspreis“ des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten, und so wird er es auch jetzt, nach seiner Pensionierung, weiter betreiben. Für 1994 sind drei Sendungen über Amerika geplant und mindestens eine über China. Oliver Rahayel