■ „Es gab keinen Wesensunterschied zwischen den Diensten“
: Verurteilt, aber nicht gebeugt

Maurice Najman: Dem gegen Sie ergangenen Urteil liegt die Unterscheidung zwischen dem „offensiven“ Charakter der Geheimdiensttätigkeit der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), der sie vorstanden, und der „defensiven“ Rolle des Bundesnachrichtendienstes (BND) zugrunde. Zudem wurde die HVA als „totalitäre“ Organisation dem „demokratischen“ BND gegenübergestellt. Sie haben diese Unterscheidungen mehrfach zurückgewiesen, aber sind Sie wirklich überzeugt, daß sie keine reelle Basis haben?

Markus Wolf: Was das Grundlegende der Arbeit anlangt, die Ziele und Methoden, gibt es nicht die geringsten Unterschiede zwischen allen Geheimdiensten der Welt. Was die DDR bzw. die HVA anlangt, ging es darum, alles in Erfahrung zu bringen (und geheimzuhalten), was für die Verteidigung der DDR-Interessen auf politischem, militärischem und ökonomischem Gebiet wichtig war, Interessen, die denen der BRD gegenüberstanden. Unser wichtigstes Ziel war, unser Land – und die mit uns verbündeten Länder des Warschauer Vertrages – vor jeder „Überraschung“ zu schützen, hauptsächlich vor jedem Überraschungsangriff. Auf der anderen Seite hatten die westlichen Geheimdienste die gleiche Aufgabe.

Zugegeben. Aber waren Sie nicht ein Spezialist dessen, was man in Ihrem Jargon als „aktive Maßnahmen“ bezeichnet? Das scheint mir weit von einer strikt „defensiven“ Aufgabenstellung entfernt zu sein.

Wir haben uns die Tatsache zunutze gemacht, daß die Länder des Westens viel offener und freier als die unseren waren, um diese Arbeit zu organisieren. Das ist unbestreitbar. Aber was sagen Sie zu den Sendungen von „Radio Liberty“ oder „Free Europe“, die vollständig vom CIA dirigiert und finanziert waren? Jeder bei uns konnte sie hören. Denken Sie weiter daran, daß die westlichen Dienste unsere innere Opposition unterstützt und sich ihrer bedient haben. Auf dem Gebiet haben sie weit größere Erfolge errungen als wir. Man hat mich beschuldigt, ich hätte das westdeutsche System destabilisieren wollen! Das ist verrückt! Dazu hatten wir weder die Möglichkeit noch die Absicht.

Natürlich haben wir in politischen Schlüsselsituationen versucht, eine politische Partei in der BRD gegenüber anderen zu stützen. Das ging aufgrund der Agenten, die wird in CDU, SPD und FDP eingeschleust hatten, einschließlich der Abgeordneten, die wir bezahlten. Unser Anteil an Geschichten dieser Art war ziemlich klein, verglichen mit dem, was das politische System der BRD ganz ohne unser Zutun produziert hat.

Wie steht es mit dem Versuch, Sie „krimineller Handlungen“ zu überführen?

Keiner der aufgebotenen Zeugen konnte Gerüchte erhärten, nach denen ich angeblich die Todesstrafe angeordnet, jemanden entführt oder gefoltert hätte. Von Anfang an habe ich erklärt, daß ich nicht für alles und jedes verantwortlich gemacht werden kann, was mein Dienst und seine Agenten im Lauf der Jahre unternommen haben. Nichts ist im Prozeß zutage getreten, was man nicht schon gewußt bzw. was ich nicht – vor dem Prozeß – schon selbst erklärt hätte. Nein, ich habe keine sauberen Hände – kann die irgend jemand bei dieser Art von Arbeit haben? Aber all die, die versucht haben, mich krimineller Aktionen zu beschuldigen, haben die Prozesse verloren, die ich gegen sie anstrengte.

Damit wäre die HVA der einzige Dienst, der weder Gewalt noch körperlichen Druck als „Arbeitswerkzeug“ eingesetzt hätte? Schwer zu glauben.

Was soll ich Ihnen sagen. Es ist einer Armee von Polizisten, Untersuchungsbeamten, Geheimdienstbeamten nicht gelungen, solche Fälle aufzudecken. Alle unsere Archive standen ihnen zur Verfügung. Nicht zu vergessen die ehemaligen Agenten der HVA, die sich entschlossen haben zu reden und nichts zu befürchten haben – im Gegenteil!

Offensichtlich sagen Sie nicht alles, was Sie sagen könnten. Geschieht das aus Loyalität, aus Furcht oder, weil Sie ein paar Karten in der Hand behalten wollen?

Wir haben im Lauf des Jahres 1990 vorgeschlagen, alles auf den Tisch zu legen, unsere Quellen aufzudecken, persönlich auf die noch nicht entdeckten Agenten einzuwirken, daß sie sich stellen – im Austausch gegen eine Amnestie. Wir waren bereit, für das neue, vereinte Deutschland jede Sicherheitsgarantie abzugeben. Eine breite Strömung im Staatsapparat der alten BRD – die Führung der Gegenspionage eingeschlossen, war bereit, diesen Vorschlag ernsthaft zu diskutieren. Aber die Politiker haben das verhindert. Sie wollen, daß wir ihnen die Schuhe küssen. Das Resultat kennen Sie.

Ihre ehemaligen „Freunde“, vor allem die sowjetische Führung, haben Sie 1990 in Stich gelassen.

Das stimmt. Als ich aus Deutschland „floh“, kurz vor der Vereinigung, habe ich bei zwei Gelegenheiten an Gorbatschow geschrieben wegen der Zukunft unserer Leute, die, nebenbei bemerkt, zu den entschlossensten Befürwortern seiner Reformen in der DDR gehört hatten. Ich habe nie eine Antwort bekommen. Er hat uns einfach verraten. Sogar die westdeutsche Regierung hat ihm im Kaukasus eine entsprechende Frage gestellt. Zu ihrer Überraschung antwortete er: Das ist eure Sache.

Soll man denn über alles Leiden hinweggehen, für das die Führer der DDR verantwortlich sind?

Ich habe nie dergleichen gefordert. Wenn ein ehemals Verantwortlicher dieses oder jenes Verbrechen gegen Einzelne oder die Bevölkerung begangen hat, soll man ihn vor Gericht stellen. Aber das Paradox der Situation liegt eben darin, daß z.B. die Chefs der politischen Polizei nicht anders verurteilt werden können als auf der Basis der Gesetze der DDR, während wir, die Leute der HVA, auf der Basis der Gesetze der (alten) BRD abgeurteilt werden.

Sie distanzieren sich von der Stasi, aber waren Sie nicht einer ihrer wichtigsten Führer?

Als Chef der Aufklärung! Aber es geht nicht darum, über eine Politik, über eine Institution an sich zu urteilen. Es gibt keine kollektive Verantwortlichkeit im strafrechtlichen Sinn, nur eine individuelle. Es gibt kein „Nürnberg“ gegen die ehemalige DDR. Deswegen ist der Prozeß wegen Hochverrats (gegen welches Land?), der gegen mich geführt wurde, eine Farce. Sein einziger Zweck ist es, eine politische Operation zu maskieren. Man hat Honecker ziehen lassen, und der Ex-Minister Mielke ist einfach zu senil. Jetzt sollte ich den Sündenbock spielen. Aber ich stehe zu meiner Verantwortung, ich krieche nicht zu Kreuze, ich verlange kein Pardon. Das war zu viel für die Justiz der Sieger! Das Interview führte

Maurice Najman

mit freundlicher Genehmigung der französischen Zeitschrift Globe.