Österreich im Banne der Briefbombenserie

■ Fahndung bisher erfolglos / Schweigeminute im ganzen Land / Verfassungsschützer befürchten Nachahmungstäter in Deutschland

Wien (AFP/dpa/taz) – In ganz Österreich wurde gestern eine Schweigeminute eingelegt, mit der die Briefbombenattentate der vergangenen Tage verurteilt werden sollten. Gleichzeitig liefen die Ermittlungen auf Hochtouren, um weitere Briefbomben abzufangen und die Absender der lebensgefährlichen Sendungen zu ermitteln. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, wurde eine Belohnung von 300.000 Schilling, das sind umgerechnet 43.000 Mark, ausgesetzt. Der österreichische Sicherheitschef Michael Sika erklärte im Radio, er rechne mit weiteren unangenehmen Überraschungen. Bis zum Dienstag waren insgesamt zehn mit Briefbomben präparierte Briefe aufgetaucht, von denen vier explodierten. Dabei wurden fünf Personen verletzt, vier von ihnen schwer.

Radio und Fernsehen unterbrachen ihr Programm um 11 Uhr, um gegen die seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellose Anschlagserie zu protestieren. „Alle demokratisch gesinnten Menschen verurteilen diese Verbrechen aufs schärfste“, hieß es im Rundfunk vor der Sendeunterbrechung. „Gewalt schafft Gewalt.“ Die öffentlichen Verkehrsmittel in Wien standen still. Viele Autofahrer schlossen sich an und stoppten ihre Wagen für eine Minute. Auch in Betrieben, Rathäusern und Ausbildungsstätten ruhte die Arbeit für eine Minute. Die Regierung unterbrach eine Kabinettssitzung. Allein in Wien wurden über 10.000 Unterschriften gegen die Bombenversender gesammelt.

Den Verletzten ging es nach Auskunft der Ärzte gestern wieder besser. Das prominenteste Opfer, der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, wurde erneut an der linken Hand operiert, die am Sonntag abend durch eine von zehn Briefbomben zerfetzt worden war. Dem populären Bürgermeister, der Berge von Genesungsschreiben erhält, müsse entgegen ursprünglichen Befürchtungen die Hand nicht amputiert werden, erläuterten die Ärzte. Zilk verlor drei Finger. Die am Montag verletzte 18jährige Anwaltsgehilfin wird von ihren Handverletzungen keine Folgeschäden davontragen.

Zum Stand der Fahndung berichtete Innenminister Franz Löschnak von zwei Hausdurchsuchungen. Die Täter seien „sicher fremdenfeindlichst eingestellt“, sagte er. „Einen hochintelligenten Irren kann man aber auch nicht ausschließen.“ Die Polizei überprüfte Hunderte Hinweise aus der Bevölkerung. Es habe bereits zwei Hausdurchsuchungen bei Verdächtigen gegeben, weitere sollten folgen. Die Suche nach verdächtigen Briefen gehe weiter, durch die Unmengen an Weihnachtspost werde sie jedoch erschwert.

Außenminister Alois Mock sagte im RTL-Morgenmagazin, er sei fest davon überzeugt, daß die Polizei das „Nest der Briefbombenleger“ ausheben werde. Allerdings könne nicht erwartet werden, daß die „Fanatiker“ der Attentate innerhalb von zwei, drei Tagen gefaßt werden.

Bürgermeister Zilk war – wie auch alle anderen Adressaten der Briefbomben – für seinen Einsatz für Ausländer und Minderheiten bekannt. Dies läßt nach Meinung der Fraktionsvorsitzenden der Grünen im österreichischen Bundestag, Madeleine Petrovic, den Schluß zu, daß die Täter Anhänger der rechtsgerichteten FPÖ von Jörg Haider seien. Petrovic, die selbst eine Briefbombe erhalten hatte, erklärte, es passe einigen Menschen offenbar nicht, daß die Wahlerfolge für Haiders Partei „zum Stillstand kamen“.

Jörg Haider versprach künftig „sprachliche Mäßigung“ und forderte seine politischen Gegner dazu auf, es ihm gleichzutun. Die von ihm geführte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) wolle aus der Terrorwelle keinen politischen Vorteil ziehen. Vorrang habe die Aufklärung, seine Partei werde daher die bisher ausgesetzte Prämie zur Ergreifung der Täter verdoppeln.

Der Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, Simon Wiesenthal, erklärte, die Anschläge hätten ihn nicht überrascht. Überrascht habe ihn aber die technische Präzision, mit der die Bomben hergestellt worden seien.

Nachahmung in Deutschland?

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) teilte mit, sie habe Hinweise, daß auch in Deutschland Briefbomben unterwegs seien. Außerdem kursieren in Neonazikreisen seit einiger Zeit Computer-Disketten mit „Fertigungshinweisen“ für Briefbomben.

Der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt, Wolfgang Heidelberg, rief vor dem Hintergrund der Briefbombenanschläge in Österreich dazu auf, keine Pakete ohne erkennbaren Absender anzunehmen. Verdächtig erscheinende Briefe – so hieß es aus anderer Quelle im Sicherheitsbereich – sollten von gefährdeten Personen in einem abgeschlossenen Raum deponiert werden. Als Indizien für eine mögliche Gefahr wurden aufgezeigt: Die Briefe sind dicker als normal, ein unbekannter Absender, ein Absender, von dem man keine Post erwartet, „stellenweise Steifheit“ eines Schreibens, die Aufschrift „Nur persönlich öffnen“.

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