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Arbeit bis zum bitteren Ende

■ Das Heim-Museum in der Oberaltenallee: Über Hamburgs Umgang mit den Siechen Von Cornelia Gerlach

Eine alte Frau schiebt schleppenden Schrittes ihr Laufhilfsgestell über den Gehweg. Schmerz zeichnet ihr Gesicht. Manchmal bleibt sie stehen, blickt mit strahlend blauen Augen um sich auf die kahlen Zweige der Bäume und das bunte Laub auf dem Rasen. Es ist, als nähme sie Abschied. Mit einem warmen Lächeln grüßt sie herüber, dann müht sie sich wieder Meter um Meter durch die Anlage des Pflegeheims Oberaltenallee, zurück „auf Station“.

Wer in das neue „Heim-Museum“ in der Finkenau 19 möchte, muß hier vorbei - vorbei an den Gebrechlichen, deren Anblick an Alter, Tod und Verfall erinnert und den wir von daher gerne meiden. Schlagworte fallen ein: Pflegefall - Pflegeheim - Pflegeversicherung, auch Pflegenotstand. Das kleine Museum rückt sie in den Kontext der Geschichte. Es wird klar: Fürsorge für die Schwachen, Armen, Kranken und Alten ist nicht erst seit gestern teuer. Die Stadt Hamburg ist durch die Zeiten hinweg sehr unterschiedlich mit dem „Problem“ umgegangen.

Das Museum basiert auf der Arbeit diverser ABM-Kräfte aus den vergangenen 14 Jahren. In zwei Jahren hartnäckiger Arbeit hat Evamaria Vohwinkel die Erkenntnisse ihrer Vorgänger um viel Material bereichert und zu einem Museum geformt: Angefangen von der Geschichte der Armen- und Siechenfürsorge bis hin zum komplett eingerichteten Schlafraum. Die Museumsmacherin ist Musikerin und Künstlerin, nicht Historikerin oder Soziologin. Ihr Schwerpunkt lag deshalb weniger auf der Forschung - das hatten andere vor ihr schon getan - sondern auf dem Erfahrbar-Machen der Sozialgeschichte.

Fürsorge war schon immer der Konjunktur unterworfen

Statt in Archiven trieb sie sich so in den Kellern von Heimen in Ost und West, auf Flohmärkten, bei Trödlern und auf der Suche nach alten Pflegerinnen herum, die Material beisteuerten - vom Pißpott bis zur Kaffeetasse, vom Rollstuhl bis zum Medizinschrank. Wer die Küche, den Schlafsaal, die Arztpraxis und das Bad in Gedanken mit Leben gefüllt hat, bekommt ein gutes Bild vom früheren Alltag im Heim.

Auf Wandtafeln ist die Geschichte der Hamburger Fürsorge seit dem 17. Jahrhundert verzeichnet. Vorgänger des Heims an der Oberaltenallee war das Werk- und Zuchthaus an der Binnenalster, mit dem 1614 die Stadtherren versuchten, die zunehmende Bettelei und Kriminalität einzudämmen. „Betrügerische Bettler“ wurden fortan aufgegriffen und ins Zuchthaus gesperrt, aber auch Arbeitsunfähige fanden dort Unterkunft.

Die Fürsorge war schon damals der Konjunktur unterworfen. War Geld im Säckel, fiel auch für die Armen und Siechen etwas ab. In Zeiten der Rezession aber hattten sie nichts zu lachen. Als unter der Knute Napoleons im Winter des Jahres 1813 der Hunger unerträglich wurde, scheuchte die Stadt 349 Waisen, 800 Kranke und 60 Wahnsinnige vor die Tore. Etliche davon erreichten Eppendorf nicht, und in den kommenden Tagen starben zwei Drittel der Vertriebenen. Die Stadt hatte ein Problem weniger.

Anfänglich waren Strafvollzug und Armenpflege eng verknüpft. Erst als 1853 das Heim in der Oberaltenallee eröffnet wurde, änderte sich das. Es hieß fortan „Werk- und Armenhaus“. Die „Insassen“ mußten, so weit irgend möglich, durch Arbeit zu ihrem Lebensunterhalt beitragen. „Müßiggang ist aller Laster Anfang“, heißt es in der alten Anstaltsordnung. Vordergründig diente die Arbeit der Erziehung, sollte Bettlern und Waisen helfen, einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Aber es wurde auch knallhart gerechnet. Das Heim war ein komplexes ökonomisches System mit eigener Landwirtschaft, eigenen Fabriken, Handwerksbetrieben, einer Bäckerei und einer großen Küche.

Die Aufgaben richteten sich nach dem Können der Betroffenen. Starke Männer mußten die Felder der Anstalt beackern und bekamen dafür sommers wie winters eine extra Jacke zugeteilt. Die handwerklich Geschickteren wurden in die Werkstätten beordert oder buken in der Bäckerei das Brot nicht nur für ihre MitbewohnerInnen, sondern gleich noch für eine ganze Reihe städtischer Krankenhäuser, Einrichtungen und Behörden mit. Im Jahr 1901, so ist auf einer Abrechnung zu lesen, kamen dort fast eine Million Kilogramm Brot aus dem Ofen, wovon nur gut ein Viertel für den anstaltseigenen Verzehr bestimmt war.

Die Alten, Schwachen und Verwirrten waren vom Arbeiten nicht befreit. Viele verdienten ihren Lebensunterhalt mit dem Kleben von Tüten oder dem Nähen von Säcken. Oder sie klopften Steinnüsse auf, die Samen der südamerikanischen Elfenbeinpalme, aus deren Material Würfel und Knöpfe gemacht wurden. Selbst für diejenigen, die fast nicht mehr kriechen konnten, gab es noch Arbeit. Sie mußten Werg zupfen, also die alten, ausrangierten Taue der Schiffe wieder aufdröseln. Die Hanf- und Sisalfasern wurden dann auf den Werften in Pech getaucht und zum Dichten der Schiffe verwendet. So verdienten jene, die sich noch rühren konnten, das tägliche Brot auch für die Kranken und Bettlägrigen.

Die vergilbten Bilder der Arbeit, von Fabrikhallen und Werkstätten zeigen emsige Ordnung. Sie sagen nichts über Härte. Die läßt sich erst ahnen, wenn man die Verdienstlisten und Speisepläne studiert. Eine Idealisierung des Heimes als Arbeitsplatz verbietet sich. Eher ist von Ausbeutung die Rede. Doch die drei warmen Mahlzeiten, die das Heim bot, hatte draußen nicht jeder.

Erst die Weimarer Republik veränderte das Sozialsystem. Jetzt wurde schärfer getrennt zwischen Alten- und Armenpflege, Fürsorge und Strafvollzug. 1919 wurde das Werk- und Armenhaus in „Staatliches Versorgungsheim“ umbenannt. Waren früher die Bettlägrigen noch in der Minderheit gewesen, so verschob sich das Verhältnis zunehmend: Die „Oberaltenallee“ entwickelte sich von der Arbeitsanstalt zum Pflegeheim für ältere Menschen, die nicht mehr in der Familie versorgt werden konnten. Als das Heim nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde, entstanden statt Produktionsstätten Freizeiteinrichtungen.

Heute heißt es in einer Broschüre, mit der sich die staatlichen Pflegeheime der Freien und Hansestadt Hamburg vorstellen: „Wer will, kann bei uns auch einfach faulenzen. Doch bei den vielfältigen Angeboten von Aktivitäten, die wir in unseren Heimen für sie bereithalten, werden sie bestimmt schnell auf den Geschmack kommen und Freude am Mitmachen gewinnen.“

Viele Fotos im Museum illustrieren den Alltag im Heim in den 30er Jahren. Fast idyllisch muten sie an - ein rührendes Miteinander von BewohnerInnen und Personal. Da sitzt eine Pflegerin mit der Gitarre im Schlafsaal, umgeben von fröhlich dreinblickenden Gesellen. Da fährt einer im Rollstuhl unter großen Bäumen. Da streicht eine Schwester einem Lilliputaner zärtlich die Hand. Diese Bilder, deren Fotograf leider unbekannt ist, spiegeln ein sich änderndes Sozialwesen. Es galt nicht mehr: „Nur der arbeitende Mensch ist ein vollwertiger“, sondern die Fürsorge des Staates galt zunehmend auch den Arbeitsunfähigen.

Wenig erfährt man über den Heimalltag unter den Nazis

Glaubt man den bisher ausgewerteten Dokumenten und Aufzeichnungen, dann ist die Oberaltenallee von den Euthanasie-Programmen verschont geblieben. Nur wen oder was der damalige Heimleiter Professor Dr. Biemann in einem Raum am Rande des Geländes seziert hat, möchte Museumsmacherin Evamaria Vohwinkel gern wissen. Vermutlich hat aber auch er geholfen, die Heiminsassen vor dem Zugriff der Vernichtungsstrategen zu schützen. Berichte aus anderen Heimen zeigen, wie drastisch die Nazis gedachten, sich des „Problems“ der Pflege zu entledigen. Ein Hinweis darauf hätte dem Museum gut getan.

Keins dieser Modelle ist auf die Gegenwart übertragbar. Doch zeigt der Rückblick in die Geschichte, daß der Umgang mit den „Siechen“ den Hamburgern nicht leicht fiel. So gibt die Ausstellung Denkanstöße für die anstehende Diskussion um die Pflegeversicherung.

Das Museum im Haus 1 des Pflegeheims Oberaltenallee, Finkenau 19, ist dienstags bis freitags von 10-12 und 14-16 Uhr geöffnet. Gruppenanmeldung bitte unter Tel. 2980-4487

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