Hohepriester des Volley

Stefan Edberg spielt heute im Halbfinale des Grand Slam Cup gegen Michael Stich  ■ Aus München Matti Lieske

Wenn ein Tennisspieler so etwas wie der Weggefährte von Boris Becker ist, dann der Schwede Stefan Edberg. Schon vor zehn Jahren schlugen sie sich als hochtalentierte 16jährige die Bälle in Endspielen von Jugendturnieren um die Ohren, beide gewannen sie Wimbledon, andere Grand-Slam- Turniere, den Davis-Cup, beide waren die Nummer 1 der Weltrangliste, und beide wurden sie in diesem Jahr durch plötzliche Väterlichkeit mehr oder minder leicht aus der Bahn ihrer Karriere geworfen.

Doch während sich bei Becker jeder Schritt mit viel Getöse und Druckerschwärze vollzog, erledigte der Polizistensohn aus Västervik seinen Part meist in aller Stille. Fast stündlich wird der struppige Deutsche gefragt, wie es denn dem ungeborenen Kinde und der „Mama“ gehe, was er denn dem „Zausel“ übernächste Weihnachten vorsingen werde und wie er sich die Vaterschaft generell vorstelle. Edbergs Kind ist längst da, aber keiner will wissen, wie es ihm geht, geschweige denn, was der „Papa“ ihm vorsingt.

Entsprechend moderat verlief auch der Karriereknick des Schweden. Zwar gewann er 1993 nur ein Turnier, ein Minusrekord für Edberg, aber er blieb trotz sechswöchiger Babypause auf Platz fünf der Weltrangliste und kann es sich angeblich sogar leisten, dem gleichaltrigen Vaterschaftskollegen gegenüber richtig frech zu werden. „Er ist Geschichte“, soll er despektierlich über Becker geäußert haben, von Edberg würde das niemand sagen.

Daß mit dem 26jährigen wieder zu rechnen ist, zeigt er derzeit beim Grand Slam Cup in München, wo er im Viertelfinale just auf Becker- Bezwinger Wayne Ferreira traf, was Gelegenheit zu interessanten Vergleichen bot. Der Unterschied wurde schnell deutlich. Beide hängen stark von ihrem Aufschlag ab, doch da nahmen sie sich gegen den Südafrikaner kaum etwas. Becker brachte 54 Prozent seiner ersten Aufschläge ins Feld, Edberg 58, Becker machte, wenn sein erster Aufschlag kam, 89 Prozent der Punkte, Edberg 82. Auch bei der Erfolgsquote der Netzangriffe stand der Deutsche dem Mann mit dem besten Volley des Tenniszirkus keineswegs nach. Er schloß 70 Prozent seiner Attacken erfolgreich ab, Edberg nur 59. Allerdings griff der Schwede in 26 Spielen 54 Mal an, Becker in 22 Spielen nur 23 Mal. Entscheidend waren neben dem entschlosseneren Spiel die zehn Doppelfehler Beckers und die Unfähigkeit, etwas mit dem zweiten Aufschlag Ferreiras anzufangen. Gegen den angreifenden Edberg gewann der Südafrikaner nur 40 Prozent der Punkte nach zweitem Aufschlag, gegen den Deutschen 64.

Und Edberg machte seine Punkte im richtigen Augenblick. Er begann souverän, und als er den ersten Satz nach 5:2-Führung überraschend noch im Tie-Break verloren hatte, schlug er zu, nahm Ferreira sogleich den Aufschlag ab und untergrub dessen Moral derart, daß der Südafrikaner plötzlich jede Menge Fehler machte. „Von da an war es eine Einbahnstraße“, meinte Edberg – 6:1, 6:0.

Heute darf der Schwede seine wiedergefundene Form im Halbfinale gegen Michael Stich demonstrieren, der sich im übrigen keineswegs für den „kompletten Tennisspieler“ hält. Die Rückhand und die Vorhand von Agassi hätte er gern, seinen eigenen Aufschlag – und den Volley von Stefan Edberg natürlich.