■ Bücher.klein
: Man spricht Deutsch

Wolf Biermann, der das Vorwort schrieb, war „auf eine Expedition ins Bestiarium“ vorbereitet, als er die hundert Aufsätze ost- und westdeutscher SchülerInnen zur deutschen Einheit zu lesen begann. Seine Erwartungen wurden voll befriedigt. Den „Früchtchen“ aus dem Osten und Westen, von der Hauptschule bis zum Gymnasium vertreten, wurde zum Tag der deutschen Einheit 1990 von ihren Lehrern ein Besinnungsaufsatz: „Ein Jahr deutsche Einheit – Was fällt dir dazu ein?“ abgerungen. Die Texte sind Dokumente hemmungsloser Offenheit: Da fordert eine Schülerin im Osten, Skins ins Lager zu stecken und nur einmal im Monat „Essen und Stroh“ per Hubschrauber abzuwerfen, da sagt der Hauptschüler-Wessi über die Ossis, „Die Scheißer sollen bleiben, wo sie sind, denn wir haben schon genug broblemme mit den Asylanten“. Ein anderer fordert „Stacheldraht drumrum ... und wenn einer rüberwill, sofort abknallen oder vergasen, wie es Hitler mit den Juden gemacht hat“.

Wes Brot ich ess', des Lied ich sing': Die Jugend ist Sprachrohr von Mama und Papa. Der männliche Hauptschüler West ist prozentual am haßerfülltesten gegenüber den Ossis eingestellt (man fürchtet die Konkurrenz), die Kinder der roten Socken in den Ost-Gymnasien sind das Äquivalent: Sie kritisieren den Kapitalismus pur und die Kulturlosigkeit der Wessis und wollen ihre gute alte DDR wiederhaben.

Hat man die 100 Aufsätze – „viel Schrott in schlechtem Deutsch“ (Biermann) – gelesen, hat man das krude, niveau- und phantasielose (Brandmale auf der Haut der DeutschlehrerInnen!!!) Gestammel hinter sich gebracht, folgt die sehr ehrenvolle und bemühte Analyse des rheinland-pfälzisch-thüringischen Homeländle-Experiments durch die Lehrer: West- SchülerInnen, besonders im Gymnasium, freuten sich prozentual mehr über die Vereinigung als ihre thüringischen Pendants, obwohl sie von den Folgen der Einheit eigentlich nichts mitbekommen, was sie aber auch weiter nicht bedauern. Der Tenor des Ostens ist: toll, aber Angst; mehr kaufen können, aber kein Geld, und Arbeitslosigkeit und hohe Mieten; Reisefreiheit, aber kein Geld, und viel Kriminalität und Ausländer – „eigentlich hatten wir doch früher alles ...“ Die West-Kids faseln von „Steuerbelastungen“ und daß die „faulen“, „dummen“ Ossis endlich aufhören sollen, nur zu nölen. Zu Recht ist Biermann schockiert über die Absenz jeglicher Freiheitsimpulse oder sonstiger Ideale. Biermann suchte nach ein, zwei Lichtblicken im Bestiarium und fand sie. Ein schwacher Trost. Dennoch: Selten habe ich so viel gelacht, es tat richtig weh. Bin ich froh, in dieser unserer Zeit nicht Deutschlehrerin sein zu müssen! AS

„Deutschstunden. Was Jugendliche von der Einheit denken“. Vorwort von Wolf Biermann. Argon-Verlag Berlin, 180 Seiten, 26,80 DM