Die Krise. Gibt es eine?

■ Große Worte im Hause der Demokratie, doch nach einem Motto für die "Volksuni" im nächsten Frühjahr fahndet man noch immer - und nach gemeinsamer Sprache

„Die Linke hat oft genug darauf gewartet, daß der ganze Laden hier zusammenbricht.“ Was nicht passiert ist. Also schlägt der Politökonom namens Kurt Hübner am letzten Sonntag abend im Haus der Demokratie folgendes vor: Man müsse die „stoffliche“ und „ideologische“ Basis des zu erwartenden langen Aufschwungs des „globalen“ Kapitalismus ins Auge fassen. Zu deutsch: Man müsse mal über den Tellerrand hinausschauen.

Stattfinden soll das Über-den- Tellerrand-Schauen während der Volksuni 1994 an Pfingsten im nächsten Frühjahr. Offen für alle, vor allem aber fürs Volk und für die Linke. Auch bei der Suche nach dem Motto, dem Leitmotiv der dreitägigen Volksuni, darf neuerdings jedermensch mithelfen. Entschieden wird darüber endgültig allerdings erst im Januar oder Februar. Die vorläufige Themenliste des „Vereins Volksuni“ nach zweistündiger Debatte im Haus der Demokratie: Ost-West-Dialog, Rassismus, der „Standort“. Und, natürlich, „die Krise des Kapitalismus“.

Was den Marktwirtschaftlern die Rezession, ist den Linken „die Krise“. Argwöhnisch wird sie betrachtet. Bringt sie doch das Risiko mit sich, daß das Kapital sich noch ausbeuterischer „restrukturiert“. Aber – Variante Nummer zwei – die Krise bringt ja auch Chancen für Subjekte und neue Bündnisse.

Eine „neue intensivierte Ausbeutung“ sieht Gerburg Treusch- Dieter in den neuen Körperpolitiken. Die Soziologin und Mitherausgeberin des Freitag meint damit die profitorientierte Verwertung von Bio- und Reproduktionstechnologien – einsetzbar in der Nahrungsmittelbranche wie in der Pharmaindustrie. Am Beispiel der Zwangsberatung des neuen Schwangerschaftsrechts versuchte sie die Auswirkungen auf die Individuen deutlich zu machen: Die Beratung sei nichts als eine Disziplinierungsmaßnahme, die von „verstaatlichten Ärzten“ vorgenommen werde, sagte Gerburg Treusch-Dieter. Tatsächlich sei diese Zwangsberatung die „Pervertierung der Demokratie“.

„Wo gibt es neue Bündnisse?“ lautete dagegen die Frage von Willi Brüggen. Der Grüne ist auf der Suche nach ihnen, weil er die Chancen einer politischen Intervention auf der Basis eines Reformkonzepts ausloten will. Die Bündnisfrage müsse im Superwahljahr 1994 auch bei der Volksuni gestellt werden. Denn bei diesem Dutzend Wahlen stehe die alte Parteienkonstellation mit zur Debatte. Weite Teile der SPD fielen als Bündnispartner aus, so Brüggen, weil sie am „aggressiven Ausgrenzungsdiskurs“ teilnähmen. Und die Gewerkschaften seien selbst gefangen darin: „Sie müssen Politik für jene machen, die Arbeit haben.“ Konkret wurden die Subjekte indes nicht benannt.

Das Diskussions-Bild war eher uneinheitlich im Haus der Demokratie. Nach Hindernissen des Dialogs fragte Hannah Behrend vom Unabhängigen Frauenverband. Behrend bezog das auf den „kolonialherrlichen Diskurs der Sieger“ – aber sie meinte auch die vor ihr ablaufende „abgehobene Debatte“.

„Wir müssen über eine gemeinsame Sprache reflektieren“, forderte sie.

Prompt fragte ein Anwesender nach dem Schlagwort des Abends: „Die Krise. Gibt es sie überhaupt?“ Christian Füller