Nicht mehr lachen und auch nicht mehr träumen

■ Eine Frage der Würde: Bosnische Frauen hungern vor der Neuen Wache

Durch das Loch in der Decke der Gedenkzentrale Neue Wache tropft Schneeregen auf die Bronzeplastik „Mutter mit totem Sohn“. Die am Volkstrauertag ausgelegten Kränze der Bundesregierung für alle „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ sind längst weggeräumt, Helmut Kohl braucht nicht zu trauern. Dies tun andere, und das aus sehr aktuellem Grund. In Bosnien erfrieren und verhungern die Menschen und werden von serbischen Tschetniks und kroatischen Milizen „abgeschlachtet“. Dies sagen Azra Blazević, Zlata Cikota, Suada Ramić und Tesma Elezuvić.

Seit gestern vormittag hungern diese vier bosnischen Frauen vor der Neuen Wache. Bis zum 24. Dezember. Sie alle entkamen Anfang des Jahres dem serbischen Konzentrationslager Omarska, in dem sie monatelang gefoltert und vergewaltigt wurden. Sie werden unterstützt von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und von Fadila Mimecević, die beim GfbV ein „Dokumentationszentrum zur Erfassung von Genozid und Kriegsverbrechen“ aufbaut. Über Omarska haben sie viel gesammelt. Mindestens 3.000 Menschen wurden dort ermordet, sagt Tilman Zülch, Sprecher der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die vier Frauen und ihre Unterstützer fordern von Kohl, seine „besonderen Beziehungen“ zu Kroatien zu nutzen. Er soll freie Fahrt für die Hilfskonvois nach Bosnien erzwingen und den Frieden bringen. Azra Alzević, 33, weiß, daß ihr Hungerstreik vergeblich sein wird. „Es ist eine Frage der Würde, vor den Verhältnissen nicht zu kapitulieren“, sagt sie in einwandfreiem Deutsch. Bevor sie im Lager Trnopole bei Omarska gequält wurde, arbeitete sie als Tierärztin in Prijdor. Jetzt lebt sie mit Sohn und Tochter bei München und ist Putzfrau mit Doktor-Titel. Immerhin, ihre Kinder leben noch. Der Sohn von Tesma Elezuvić, 44, ist tot. Tschetniks verbrannten den 21jährigen in einem Haus, in das er sich – angeschossen – geflüchtet hatte. Es ist ein Wunder, daß Tesma noch lachen kann, meint Zlata Cikota. Sie kann es nicht mehr. Die 55jährige Ingenieurin wurde in Omarska Opfer und Augenzeugin grausamster Verbrechen. In einem Film, den die ARD kürzlich ausstrahlte, berichtete sie darüber. Frau Cikota kann nicht mehr träumen, ist krank, raucht Kette. Sie hofft in Berlin auf psychotherapeutische Hilfe. „Aber ich darf nicht nur an mich denken“, sagt sie. Am gleichen Tag, als der Kanzler in der Neuen Wache volkstrauerte, nahmen sie und die anderen Frauen an einer Pro-Bosnien-Demonstration in Buchenwald teil.

Ob die Hungerwache wirklich noch bis Weihnachten andauern kann, ist ungewiß. Am späten Nachmittag lehnte das Tiefbauamt Mitte es ab, ein Zelt aufzustellen. Begründung: Übernachten auf öffentlichen Plätzen ist verboten. Auch beim Regierenden Bürgermeister Diepgen konnte keine Ausnahmeregelung erreicht werden. Anita Kugler