Thatchers soziale Verwüstung

Satistik belegt: Privatisierung und Steuervorteile für die Reichen stürzen immer mehr Briten in Armut / Finanzpolitische Abwärtsspirale  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Der Jubel klang verhalten: Die Zahl der Arbeitslosen in Großbritannien ist erneut gefallen und liegt nun bei etwa 2,9 Millionen Menschen. Mit 10,3 Prozent bleibt Großbritannien sogar unter dem EU-Durchschnitt, wenn auch nur um 0,1 Prozent. Die Statistik veranlaßte Arbeitsminister David Hunt zu optimistischen Wirtschaftsprognosen. Er wurde jedoch vom Arbeitgeberverband der Maschinenbauindustrie umgehend auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Mindestens 60.000 Jobs würden in ihrem Bereich noch flötengehen.

Eine andere Statistik, die das Ministerium für Soziales vor kurzem veröffentlicht hat, kratzt heftig am Sockel der ideologischen Tory-Übermutter Margaret Thatcher. Demnach hat sich der Graben zwischen Arm und Reich noch nie so weit verbreitert wie unter der ehemaligen Premierministerin, die bis Ende 1991 in der Downing Street residierte. Thatcher hat keineswegs die Steuern gesenkt, wie ihre Anhänger gerne behaupten. Sie hat lediglich die Steuerlast zugunsten der Reichen umverteilt. Um die Senkung des Steuerhöchstsatzes zu finanzieren, wurden seit ihrem Amtsantritt 1979 Arbeitslosenhilfe, Renten und Pensionen gekürzt. Das Ergebnis war dramatisch: Von den 31 Milliarden Pfund Steuern, die bis 1992 gespart wurden, kassierte das eine Prozent der Superreichen alleine 27 Prozent, während sich die untere Hälfte der Bevölkerung mit 15 Prozent zufriedengeben mußte.

Die Armen wurden jedoch nicht nur im Vergleich mit den Einkommenssteigerungen der oberen zehntausend ärmer, sondern auch in absoluten Zahlen: Die unteren zehn Prozent haben heute 14 Prozent weniger Geld zum Leben, als noch 1979. Aber es geht nicht nur ums Geld: Die Lebenserwartung der Menschen in den Ghettos von Sheffield und Glasgow liegt um acht Jahre niedriger als bei den Bewohnern des reichen Südostens. Kinder, die dort geboren werden, haben eine dreimal so große Chance, den ersten Lebenstag zu überstehen wie Neugeborene in den West Midlands. Und die Privatschulen, die von sieben Prozent aller SchülerInnen besucht werden, produzieren die Hälfte der besten Schulabschlüsse.

Die Umverteilung war die erste Phase von „Thatchers Revolution“. Die soziale Verwüstung, die Thatcher hinterlassen hat, ist nur allzu offensichtlich: Auf den Straßen britischer Großstädte nimmt die Zahl der Bettler und Obdachlosen ständig zu, viele Rentner können nur noch das Notwendigste einkaufen. In der zweiten Phase, die 1987 begann, ging es um die Neustrukturierung des Wohlfahrtsstaats. In dieser Phase hat die Regierung zahlreiche Dienste, die bis dato dem Staat oblagen, an private Träger abgetreten. Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst fiel seit 1979 von neun auf fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Der gewünschte Nebeneffekt war die Schwächung der Gewerkschaften.

Thatchers Sturz Ende 1991 bedeutete noch lange nicht das Ende des Thatcherismus, obwohl ihr Nachfolger John Major seine Wahl eben diesem Irrtum verdankt. Der Thatcherismus ist die Ideologie, die die Torys zusammenhält. Major hat der Regierung keinen eigenen Stempel aufdrücken können. Er kann lediglich eine neue Gemeindesteuer vorweisen, die dem Pro-Kopf-Steuer-System verblüffend ähnelt, sowie eine „Bürger- Charta“, die selbst seine Anhänger für einen Witz halten. Ansonsten macht Major die gleiche Politik wie seine Vorgängerin – mit anderen Methoden.

Major setzt Thatches Politik fort

Er hat nun die dritte Phase der „thatcheristischen Revolution“ – ohne sie so zu nennen – eingeläutet, in der die Bereiche Gesundheit, Bildung, innere Sicherheit und Soziales auf vermeidbare Kosten abgeklopft werden sollen. Nichts ist mehr vor Privatisierung sicher – von Renten über Gefängnisse bis zur Polizei. Außerdem hat die Regierung den Plan ins Auge gefaßt, verschiedene Verpflichtungen – wie die Bereitstellung von Kindergartenplätzen oder Zuschüsse zur Krankenversicherung – auf Unternehmen abzuwälzen. Das ist ein besonders zynischer Vorschlag, hat die Regierung ihren Ausstieg aus der Europäischen Sozialcharta doch damit begründet, daß die britische Industrie nicht weiter belastet werden könne, da sie sonst international nicht mehr wettbewerbsfähig sei.

Aber nun geht es um die eigene Wurst: Die Regierung steht vor einem Haushaltsdefizit von 50 Milliarden Pfund. Zwei Fünftel davon sind auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Schatzkanzler Kenneth Clarke will deshalb den Rotstift vor allem beim Sozialministerium ansetzen. Die 80 Milliarden Pfund, die das Sozialministerium in diesem Steuerjahr ausgegeben hat, entsprechen etwa einem Drittel aller Regierungsausgaben.

Sozialminister gegen die Armen und Alten

Vorreiter der Sozialkürzungen ist ausgerechnet Peter Lilley, der als Minister für Soziales eigentlich um jeden Penny kämpfen müßte. Lilley greift jedoch auf Statistiken zurück, um ein Katastrophenszenario zu malen: neun Milliarden Pfund im Jahr für drei Millionen Arbeitslose, 13 Milliarden Pfund für 12,5 Millionen Kinder und 34 Milliarden Pfund für zehn Millionen Rentner. Und für diejenigen, denen bei diesen Zahlen noch nicht schwindlig geworden ist, fügt Lilley noch hinzu: Seit Thatchers Amtsantritt 1979 sind die Kosten für Renten um 14 Prozent gestiegen, für Kindergeld um 75 Prozent und für Arbeitslosenunterstützung um 150 Prozent.

In der europäischen Statistik der Sozialausgaben steht Großbritannien im unteren Drittel, wenn man die Ausgaben mit dem Bruttosozialprodukt vergleicht. Noch vor einem Jahr beglückwünschte sich Lilley zu seiner Voraussicht, die Sozialausgaben schon so früh eingedampft zu haben. Jetzt könne man sich zurücklehnen und zuschauen, wie der Rest Europas nachziehe, hoffte er damals.

Doch weit gefehlt: Die Demontage geht weiter. So soll das Pensionsalter für Frauen dem der Männer angepaßt und auf 65 Jahre heraufgesetzt werden. Ersparnis: fünf Milliarden Pfund. Übersehen wird dabei jedoch, daß die Hälfte aller Männer zwischen 55 und 65 Jahren nicht mehr arbeitet. Die Mehrheit taucht jedoch nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Von allen „arbeitsfähigen Männern zwischen 16 und 64 Jahren“ sind 1,7 Millionen arbeitslos gemeldet. Weitere zwei Millionen sind als „nicht beschäftigt“ eingestuft.