Woher dieser Haß?

■ Der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin über die aggressiven und destruktiven Grundlagen des Mordens in Bosnien -Herzegowina

taz: Herr Parin, über Jahrhunderte hinweg haben die Serben, Kroaten und Muslime Bosnien- Herzegowinas doch relativ friedlich zusammengelebt. Terror und Krieg während des faschistischen Regimes der kroatischen Ustascha-Republik von 1941 bis 1945 waren wohl eher die geschichtliche Ausnahme. Dennoch ist oft von einer historisch tief verwurzelten Feindschaft der Völker Bosnien-Herzegowinas die Rede. Es wird behauptet, die 45 Jahre friedlicher Koexistenz nach dem Zweiten Weltkrieg seien nur der Repression des kommunistischen Regimes zu verdanken gewesen. Ist das so?

Paul Parin: Keineswegs. Ich weiß, der Nobelpreisträger Ivo Andrić, geboren 1892 in der zentralbosnischen Stadt Travnik, der einer katholischen, also kroatischen Familie entstammt, dann in Serbien lebte – und im Königreich noch Diplomat war – gebraucht immer wieder dieses Bild. Er beschreibt das intensive Zusammenleben in diesem Völkergemisch – Bosnier, Kroaten, Serben, Juden, muselmanische Serben, muselmanische Bosnier – als ein „Leben auf dem Vulkan“: im Untergrund kochen Haß und Wirrwarr. Nun, Andrić war ein großer Schriftsteller, und leider prophetisch, was diese Haßgefühle betrifft; trotzdem bin ich anderer Ansicht. Natürlich hat es in der Geschichte große Spannungen gegeben. Aber Andrić hat von diesem untergründigen Haß ganz unter dem Eindruck des beginnenden Ersten Weltkrieges geschrieben. Im Zweiten Weltkrieg, gegen dessen Ende ich als Arzt dort gearbeitet habe, war von diesen historischen Spannungen nichts mehr zu spüren – aber es gab natürlich Feindschaft zwischen den Faschisten und der Befreiungsarmee, in der Serben und Kroaten zusammenarbeiteten.

Weshalb ist es denn jetzt zum Krieg gekommen? Was liegt ihm ursächlich zugrunde?

Schon lange vor Ausbruch der Feindseligkeiten gab es die Planung eines Vertreibungs- und Vernichtungskrieges. Trotzdem wird der Krieg in den Medien immer schlicht als Bürgerkrieg bezeichnet. Formal gesehen, kann man natürlich auch die Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland als Bürgerkrieg betrachten. Da haben die Nazis jüdische Bürger Deutschlands umgebracht. Es brauchte zehn Jahre und ein konkretes Feindbild – ursprünglich die Kosovo-Albaner –, bis sich in Serbien eine Machtclique installieren konnte, bestehend aus Parteifunktionären und Armeekommandanten, die eine wirksame und paranoide Propaganda entfaltete. 1990 gab es in Belgrad keine slowenischen und kroatischen Zeitungen mehr zu kaufen, und alle serbischen Zeitungen waren Hetzblätter gegen die minderwertigen und höchst gefährlichen Albaner und Kroaten – und das nicht im Stile des Völkischen Beobachters, sondern in dem des Stürmers. Das immer wiederholte Motto, ein Zitat eines serbischen Parlamentariers, war: „Tags arbeiten die Kroaten, und nachts töten sie Serben.“ Die angeführten Greueltaten allerdings stammten aus der Zeit vor 1945. Man kann diesen Krieg nicht verstehen, wenn man ihn als Bürgerkrieg bezeichnet, man muß ihn nach den Mustern beschreiben, die wir aus der Geschichte faschistischer und nationalsozialistischer Staaten kennen.

Aber weshalb konnte diese Propaganda greifen?

Nun, im Ersten Weltkrieg hat es gerade mal vierzehn Tage gedauert, bis die Engländer und die Deutschen davon überzeugt waren, daß jeweils die andere Seite zu allen Greueltaten in der Lage sei – und damals gab es noch kein Fernsehen. In Jugoslawien hat es trotz großer geschichtlicher Spannungen immerhin zehn Jahre gedauert. Eine Anomie – wirtschaftlicher Niedergang, der Verlust gültiger Regeln, der Zusammenbruch der alten Ideologie – begünstigt natürlich den Sieg eines Diktators, eines Demagogen oder, wie man heute sagt, eines „Populisten“. Man kann die Rolle des Fernsehens hier gar nicht überschätzen. Erst wurden in Serbien, dann in Kroatien mit Greuelbildern Angst und Haß erzeugt – und zwar teilweise mit denselben. Da wurde dann auch einmal der Bau eines Tennisplatzes als der eines Konzentrationslagers der anderen Seite untergeschoben. Und schließlich hat in der serbischen, sehr patriarchalen Mentalität das Militär, die kriegerische Auseinandersetzung immer eine große Rolle gespielt. In Bosnien wurden die Erfahrungen des friedlichen Zusammenlebens, der zivilen und multikulturellen Traditionen sehr viel länger aufrechterhalten.

Mord und Totschlag gibt es in allen Kriegen. Wie erklären Sie, daß es oft gerade die Nachbarn sind, die Nachbarn töten, daß Schüler oder auch Lehrer ihre Mitschülerinnen vergewaltigen?

Ich habe da nur eine sehr ungesicherte Hypothese. Ich glaube, daß gerade der ehemalige Zusammenhalt eine besondere Brutalität erzeugen kann. In Gruppen, die eng zusammengehörten, kommt die persönliche Wut, die Enttäuschung darüber hinzu, daß gerade die früheren Freunde – der Propaganda nach – zu Feinden geworden sind. Und dann muß Rache genommen, muß der Feind vernichtet werden.

In Ihrem ethnopsychoanalytischen Werk beschreiben Sie auf der „zivilen“ Ebene starke Unterschiede zwischen beispielsweise afrikanischen und europäischen Gesellschaften – oder auch schon den Agni und Dogon in Westafrika –, was die erlaubten und gewohnten Ausformungen von Aggression betrifft. Aber wo die Aggressionen pathologisch werden, schreiben Sie, werden sie sich sehr ähnlich, sozusagen transkulturell. Aber dennoch bleibt der Unterschied, daß es Männer sind, die Gewalt ausüben, und Frauen, die sie erleiden.

Ziel der Aggression sind immer die Schwächeren. Nicht nur auf dem Balkan, auch bei uns in der Schweiz sind die Frauen – wie auch die Zigeuner – die Schwächeren, die Erleidenden. Aber auch Frauen können auf dieselbe Art hassen.

Aber dann stellt sich doch die Frage, warum die Frauen diesen Haß nicht ausüben?

Frauen wie Indira Gandhi, Golda Meir, Margaret Thatcher sind durchaus in der Lage, „männliche Politik“ zu betreiben. Daß bei den Männern, die selbst kämpfen, noch spezifische, sexuell gefärbte Aggressionspotentiale hinzukommen, daran gibt es gar keinen Zweifel. Und ich stimme mit Ihnen überein: Wenn es eine Politik gäbe, die sich nach der psychologischen Disposition der meisten Frauen richtete, dann wäre die natürlich vorzuziehen. Zwei Beispiele aus Jugoslawien: Das serbische Parlament in Belgrad und das bosnische in Sarajevo sind von Frauen besetzt worden; eine Frau hat dort das Mikrophon genommen und zum Frieden aufgerufen, die männlichen Pazifisten haben das nicht fertiggebracht.

Dennoch: Von einem bestimmten Punkt an schlägt Aggression in Barbarei um, sagen Sie – und zwar kulturunspezifisch. Aber auch geschlechtsunspezifisch?

Dieser Umschlag ist erschwert, da gebe ich Ihnen recht.

Warum setzen Männer – auch die Jungnazis hier, nicht nur die zum Machismo erzogenen Männer auf dem Balkan, ihren Körper als Kampfmittel ein? Welches Körperbewußtsein und -gefühl muß es geben, damit die körperliche Unversehrtheit immer wieder aufs Spiel gesetzt wird?

Als Ethnologe habe ich beobachtet, daß für die Ausbildung dieses Körpergefühles wohl die Pubertät und die frühe Adoleszenz viel entscheidender sind als die frühkindliche Erziehung. Was Stärke und Schwäche betrifft: Auch bei einer liberalen Erziehung wie in Deutschland oder der Schweiz wachsen die Kinder in hierarchische Strukturen hinein – und immer sind es die Jungen, die Vorrechte zugestanden bekommen. Wenn Kinder und Jugendliche gleichberechtigt und gefühlsmäßig eng verbunden in Gruppen zusammenleben, wo sie sich entwickeln können, werden Aggressionen sehr gemildert, und es entsteht kein so tiefer Haß.

In Jugoslawien ist die Geschlechterhierarchie zwischen Frauen und Männern wesentlich stärker ausgeprägt als beispielsweise in der Schweiz. In der Erziehung dort, vor allem in Serbien und Montenegro, spielt zudem die Dämpfung von Affekten kaum eine Rolle, Aggressionen werden nicht abgeleitet, der spontane Gefühlsausdruck wird grundsätzlich ermutigt. Nun ist der körperliche Ausdruck von Aggressionen keineswegs biologisch bedingt, aber doch eine sehr tiefgreifende psychosoziale Bildung. Diese jungen Männer, die ganz aufs Töten gepolt sind, befinden sich im Krieg, also einer permanenten Spannung. Krieg besteht zum großen Teil aus Warten, also Passivität in Angstspannung. Und individuell entspannend ist immer der Umschlag von Passivität in Aktivität, körperliche Aktivität. Im Krieg kommt der Freibrief für destruktives Handeln hinzu, bei diesen Massenvergewaltigungen beispielsweise. Im Unterschied zu anderen Kriegen, auch dem Zweiten Weltkrieg, ist in Jugoslawien aber der Terror selbst schon Vertreibungsmittel, gibt es diese Gleichzeitigkeit von Vertreibung und Vernichtung.

Welche Rolle spielt für diese Vernichtungswut die immer wieder angeführte Verdrängung der historischen Greueltaten?

Die Massenmorde der Tschetniks, der Ustaschas, der Partisanenarmee am Ende des Zweiten Weltkrieges waren in Jugoslawien niemals ein Thema. Es gab Kriegsverbrecherprozesse, aber diese Greueltaten wurden niemals aufgearbeitet. Schon vor dem Tod Titos, erst recht aber danach, war die Presse allerdings außerordentlich frei: Die Untaten der Geheimpolizei wurden in Romanen beschrieben, während diese Geheimpolizei im Amt war... Man kann, was die Massenmorde betrifft, nicht von Verdrängung sprechen – es gibt ja eine Erinnerung –, aber von Selbstzensur. Und diese unterdrückte Vergangenheit hat die Propaganda sicher sehr erleichtert.

Halten Sie ein Zusammenleben der Serben, Kroaten und Muslime Bosnien-Herzegowinas nach diesem Krieg denn noch für möglich?

Ich bin ein schlechter Prophet. Aber wie viele Juden leben heute wieder in Deutschland, wie viele sind zurückgekommen! Solange die faschistischen Regimes sich halten können, ist das natürlich undenkbar. Aber ich fürchte, daß der Krieg selbst nach der vollständigen Vertreibung und „Säuberung“ anderswo weitergehen wird: diese beschäftigungslosen Truppen brauchen den Krieg, und anstatt zu putschen, werden sie vielleicht die Kosovo-Albaner abschlachten.

Wie erklären Sie die geringe öffentliche Anteilnahme am Krieg, beispielsweise in Deutschland?

Wenn die europäische und schließlich die Weltpolitik den faschistischen Charakter eines Krieges jahrelang verleugnet und systematisch zum unverständlichen, zum atavistischen Stammeskonflikt erklärt, dann tut das seine Wirkung. Dann scheinen die gezeigten Grausamkeiten diese Propaganda ja auch zu bestätigen. Die Haltung der EG war von Anfang an: Sollen die Stärkeren siegen. Die Embargos wurden nicht konsequent durchgeführt, und von anderen als militärischen Interventionen war sowieso nie die Rede – zugleich war klar, daß man nicht militärisch intervenieren würde. Alle üblichen diplomatischen Pressionen wurden verabsäumt. Es scheint ein Interesse zu geben an einem großen Serbien, einem starken Griechenland, einem ständisch-katholischen Kroatien, also einer christlichen Barriere gegen den Islam. Meiner Ansicht nach heißt der größte Kriegsverbrecher Lord Owen. Er hat sicher nicht aus Dummheit so gehandelt.

Aber aus welchem Motiv dann?

Ich weiß es nicht ... (lacht) Lord Owen ist ein Engländer. Vielleicht hat er gewettet, daß sein Plan durchkommt. Das Gespräch führten

Thomas Schmid und

Elke Schmitter