Wie die Bank von Sarajevo überlebte

Noch werden in der bosnischen Hauptstadt Bier, Brot und Medikamente produziert  ■ Von Raffaella Menichini

In einer Stadt, in der immer mehr Fensterglas durch Plastikplanen ersetzt wird, die weiterhin im Visier serbischer Heckenschützen liegt und die seit über anderthalb Jahren belagert wird, hätte man wohl vieles erwartet, nur nicht, daß der Bankschalter offen ist. Doch es stimmt: die Banken Sarajevos funktionieren, wenn auch nicht in normaler Weise: es gibt keine Elektrizität, keine Telefone und vor allem kein nationales Geld und praktisch keine nationale Wirtschaft.

Die Banken haben nun ausschließlich die Rolle übernommen, Devisen, die aus dem Ausland kommen, zu sammeln, das heißt Dollars und vor allem Mark, seit vielen Monaten die einzigen Währungen, die in der bosnischen Hauptstadt einen wirklichen Wert haben. Eine wichtige Rolle für das Überleben von Tausenden Familien, die von den humanitären Almosen, die in die Stadt gelangen, gewiß nicht leben könnten. Die Folgen, die dies für die Nachkriegswirtschaft haben wird, sind noch kaum abzusehen.

Im sogenannten „freien“ Bosnien zirkuliert eine Währung, die man bei Kriegsbeginn im Ausland zu drucken begann. Sie zirkuliert in Tuzla, in Zenica und weiteren muslimischen Enklaven. In diesen Gebieten existieren noch einige wenige Produktionsstätten, die die Währung abstützen. In Sarajevo aber ist die Angelegenheit sehr viel komplizierter. Umsonst hat die lokale Administration die UNO gebeten, bosnisches Geld in die Stadt zu transportieren. In Sarajevo, früher ein industrielles Zentrum, sind alle größeren Produktionsstätten völlig lahmgelegt. Ein Großteil der Fabriken befindet sich ohnehin direkt an der Frontlinie.

Doch es funktioniert noch die Brotfabrik, die in Novi Sarajevo, auf dem Weg zum Flughafen, liegt und etwa hundert Frauen beschäftigt. Und es funktioniert die Bierbrauerei im alten Bistrik-Viertel, das nun „Wasser-Viertel“ genannt wird. Und es arbeitet auch noch die größte pharmazeutische Fabrik Sarajevos, die „Sanofarm“. Es ist quasi eine Fabrik „in vorderster Front“. Sie befindet sich in Kosevskobrdo, 300 Meter von der Front entfernt, hinter einem Hügel, der völlig von den Serben kontrolliert wird. Bei Kriegsbeginn wurde die „Sanofarm“ sofort von schwerer Artillerie beschossen. Von den ursprünglich 800 Beschäftigten sind 250 geblieben, fast alles Frauen. Um hierher zur Arbeit zu kommen, riskiert man wirklich das Leben, und ein Dutzend Beschäftigte sind bereits von Heckenschützen oder Granaten getötet worden. Man arbeitet sechs bis acht Stunden täglich für einen Monatslohn von durchschnittlich 15 Mark. Betäubungsmittel, Beruhigungsmittel, Sirup, destilliertes Wasser: einst war die Fabrik eine blühende Produktionsstätte mit 50 Millionen Jahresumsatz und Hunderten Patenten. 50 Prozent der Produktion waren für den Export. Heute schafft sie es mit Mühe, die dringlichsten Bedürfnisse der Krankenhäuser der Stadt zu befriedigen. Bei der Verpackung und Abfüllung der Medikamente haben Hände die Fließbänder ersetzt. Die Maschinen sind umgerüstet worden, so daß sie von einem mit Diesel gespeisten Transformator versorgt werden können.

Die „Sanofarm“ bietet nur ein Beispiel für die Bedingungen, unter denen man in Sarajevo arbeitet. Die Brotfabrik etwa, die während des Krieges für viele Bürger, vor allem für Rentner, oft die einzige Versorgungsquelle war, muß sich jetzt mit dem Mangel an Plastikkisten für die Abkühlung und den Transport der Brote herumschlagen. Viele sind beim Beschuß zerstört worden oder in den Kleinläden liegengeblieben.

Umsonst hat die Fabrik die UNO gebeten, humanitäre Hilfsmittel in Plastikkisten zu verpacken, die dann in der Stadt bleiben und der Bäckerei als Behälter dienen könnten. Und so zerbröselt und vermatscht nun das Brot in Jutesäcken von zweifelhafter Hygiene – eine weitere Erniedrigung für die Bevölkerung, die ohnehin unter äußerst prekären Bedingungen lebt.

Überall fehlt es an Arbeitsmitteln, doch gehen viele Angestellte für zwei oder drei Stunden täglich ins Büro, um dem Alltag zu Hause zu entfliehen. Aber es ist nur eine Minderheit. Es sind jene, die im Zentrum wohnen und zu Fuß zu ihrem Büro kommen. Die Zerstörung der öffentlichen Busse und Straßenbahnen sowie der Mangel an Brennstoff haben den Verkehr völlig lahmgelegt.

Es ist also eine fiktive Wirtschaft, eine eigene Währung mit reellem Wert kann es deshalb nicht geben. Das „offizielle“ Geld der Stadt sind Papierfetzen mit sechs Nullen, die man „Gutscheine“ nennt und die weniger wert sind als das Papier, auf dem sie gedruckt werden. Sie entstammen der einzigen noch funktionierenden Druckerei, derjenigen, die die Tageszeitung Oslobodjenje produziert, und werden gebraucht, um die Löhne der wenigen tausend mehr oder weniger aktiven Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auszuzahlen. Von Löhnen kann eigentlich nicht die Rede sein. Die Regierung hat unter Kriegsbedingungen lächerliche Lohnsummen dekretiert: umgerechnet zwei bis drei Mark im Monat. Einige Arbeitgeber zahlen direkt in Brot und Zigaretten, Waren, die die Leute den unnützen Papierbündeln natürlich vorziehen.

Und wie kommen nun die Banken ins Spiel? Den großen nationalen Kreditinstituten wie der Privredna Banka, der Kreditna, der Union Banka (früher Jugobanka) fiel es sehr schwer, sich in die neue Rolle einzupassen, und so haben vor allem die kleinen Banken den Löwenanteil des Geschäfts an sich gerissen. Die Bank von Sarajevo, ein kleines Finanzinstitut mit gemischtem Kapital, hat ihre Tore nie geschlossen, auch nicht in den ersten Kriegstagen und auch nicht unter dem schrecklichen Artilleriebeschuß des vergangenen Sommers. So hat sie geholfen, beträchtliche Geldsummen in die Stadt zu leiten, was zu einer veritablen parallelen Wirtschaft geführt hat. „Von Jahresbeginn an gerechnet“, erklärt Nadira Sehović, eine hübsche junge Frau, die perfekt Italienisch spricht, „haben wir über drei Millionen Mark ausgezahlt, etwa 6.000 Überweisungen von durchschnittlich 500 Mark.“

Es ist schwierig zu verstehen, wie man unter diesen Bedingungen vom Ausland her Geld überweisen kann. In der Bank gibt es keine Elektrizität, und auch das Telefon funktionierte über Monate hinweg nicht. Die gewöhnlichsten technischen Einrichtungen sind zu einer Erinnerung aus vergangenen Zeiten geworden: Wenn der Drucker krächzend zu arbeiten beginnt, hellt sich das Gesicht von Frau Sehović wie beim Klang einer befreundeten Stimme auf. Doch letztlich ging es dann eben, wie üblich, auf dem Weg der improvisazia. Die Bank erhielt von einer großen Import-Export- Firma, der Cenex (die heute kaum mehr arbeitet), umsonst ein Satellitentelefon zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise gelang es ihr, in Kontakt mit Banken im Ausland – vor allem in der Schweiz und in Deutschland – zu bleiben. Die Einzahlungen, die Familienmitglieder oder Freunde aus dem Ausland tätigten, wurden per Telefon mitgeteilt: Vorname, Familienname, Summe, Kontonummer. Wenn es keinen Strom gab und auch das Satellitentelefon nicht funktionierte, kamen die Unterlagen auf den unglaublichsten Wegen an: Irgend jemand, der aus Sarajevo aus- und nach Sarajevo einreisen durfte, brachte sie im Handgepäck mit. Manchmal übermittelten auch Funkamateure die Daten. Inzwischen hat die Bank in Zagreb und Wien zwei Filialen eröffnet, was die Operationen wenigstens ein bißchen erleichtert hat.

Der zweite Teil, das heißt die Auszahlung des Geldes, ist einfacher. Die Kunden wissen oft schon, daß Geld ankommen wird. An der Eingangstür der Bank ist jedenfalls täglich eine Liste mit den Namen jener angeschlagen, für die Geld bereitliegt. Dort versammelt sich dann immer eine große Menschenmenge. In den ersten Monaten hingegen benachrichtigte man die Kunden per Telefon oder über Anzeigen in der Zeitung, natürlich ohne konkrete Angaben. Das führte zu vielen Polemiken. Es gab Leute, die bei der Zeitung oder bei der Bank wegen Verletzung des Bankgeheimnisses protestierten. Die Angelegenheit wurde in der Bank und in der Redaktion von „Oslobodjenje“ lang und breit diskutiert. Letztlich nahm man dann von dieser Praxis Abstand.

Dies ist nur ein Beispiel unter vielen für den ständigen Widerspruch zwischen dem Begriff von „Normalität“ und den unüberwindlichen Anomalien im Alltag des Krieges.

Daß die Reserven an Valuta versiegen, befürchtet Frau Sehović nicht. Die Mark zirkuliert in der Stadt inzwischen in großen Mengen, und wer kann, hat bereits ein Sparbuch angelegt. An Arbeit mangelt es also den Bankangestellten nicht. Aber über Monate hinweg sind sie ins Büro gekommen, obwohl das Gebäude an einer für Heckenschützen gut einsehbaren Stelle liegt. „Was sollen wir anderes tun?“ meint Frau Sehović. „Wir sind ohnehin nirgends sicher, eine Kollegin von mir ist im eigenen Haus von einem Granatsplitter tödlich getroffen worden. Hier zumindest sind wir zusammen.“ Auch hier sind die Frauen in der Mehrheit. Die Männer sind drei Tage pro Woche auf den Hügeln, an der Front, und während der Ruheschicht arbeiten sie oft. Einer der Angestellten ist eines Tages nicht zurückgekehrt. Er hatte keinem der Kollegen erzählt, daß er jeden Nachmittag nach Schalterschluß an die Front ging.

Aus dem Italienischen

von Thomas Schmid