Kasernenkoller in Wetzlar

In Hessen führten 750 Flüchtlinge einen Sitzstreik durch  ■ Von Christian Semler

Bettina Twrsnick, Bibliothekarin der „Phantastischen Bibliothek“ zu Wetzlar und ihrem unaussprechlichen Namen zum Trotz aus einer alteingesessenen Dresdner Familie stammend, ist selbst eine phantastische Person. Zusammen mit 40 MitstreiterInnen hat sie sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf die Flüchtlingshilfe geworfen und arbeitet seit 1992 in der „Arbeitsgemeinschaft Bosnien- Hilfe“, einer Truppe, die niemandem verantwortlich ist außer dem eigenen Engagement. Bettina Trwsnik, das schnurlose Telephon in der einen Hand und die Bratpfanne mit dem Fischfilet in der anderen, organisiert die Termine der nächsten Stunden, ihre tägliche Portion Nervenaufreibung.

Etwas gänzlich Unerwartetes ist die letzten Wochen in Wetzlar passiert: 750 bosnische Flüchtlinge, seit August 1992 untergebracht in der Sixt-von-Arnim-Kaserne, die die Bundeswehr vorher verlassen hatte, haben sich zusammengetan, ihre Vertretung gewählt, mittels eines permanenten Sitzstreiks das Büro des Roten Kreuzes blockiert und ihre Aktion erst beendet, nachdem der hesssische Regierungspräsident Bäumer, ein Grüner, aus Gießen anreiste und versprach, sich ihrer Beschwerden anzunehmen. Die Liste ihrer Klagen ist lang. Aber im Kern geht es um nur zwei Forderungen: Verständnis für die Belastungen des Lagerlebens und vor allem: die Möglichkeit zu arbeiten.

Alija* und Džehad* sind Mitglieder des Sprecher- beziehungsweise des Streikrates. Alija ist Mechaniker, Džehad Maurer, beide stammen aus der Posavina, der fruchtbaren Tiefebene südlich der Save. Alija, der jüngere, hat nach der Einnahme seiner Heimatstadt ein Jahr lang in der bosnischen Armee gekämpft und ist dann von einem „Heimaturlaub“ nicht an die Front zurückgekehrt. Der ältere, Džehad, hat sich mit seinem Sohn über die Save gerettet und landete schließlich mit einem Flüchtlingstransport via Zagreb in Deutschland. Beide haben enge Verwandte in Bosnien zurücklassen müssen. Bei einem Gespräch in einer Kneipe außerhalb des Kasernenkomplexes lehnen sie die Einladung auf ein Gläschen Slivovic strikt ab: Nicht so sehr als Muslime (sie sind stolz auf die Liberalität ihrer bosnischen Glaubensgemeinschaft), sondern als Organisatoren der Sitzblockade. „Während des Streiks wurde nichts getrunken, kein Möbelstück angerührt, niemand angegriffen“, erklären sie stolz. „Immerhin war es Nötigung“, gibt Harald Würges zu bedenken, evangelischer Sozialarbeiter und Aktivist der Flüchtlingshilfe. Er kümmert sich um die Flüchtlingskinder und gehört zu den wenigen, denen die Bosnier vorbehaltlos vertrauen. „Ihr müßt die Gesetze eures Gastlandes respektieren“, mahnt er die Streikführer, murmelt allerdings sofort ein „Verstehen kann ich euch ja“ in seinen Rübezahlbart. Harald, Bettina und ihre Mitstreiter hatten während des Streiks vermittelt, ohne ihre Sympathie mit den meisten der Streikforderungen zu verhehlen.

Wetzlar ist, zusammen mit Hanau, hauptsächlicher hessischer Anlaufpunkt für bosnische Flüchtlinge. 5.000 von ihnen aufzunehmen, hatte sich das Land verpflichtet, 2.000 sind es bis jetzt. Zuerst, im August letzten Jahres, kamen fast nur Frauen und Kinder aus dem Nordosten Bosniens, der im Lauf des Sommers von bosnisch- serbischen Einheiten überrannt worden war. Seither sind auch Männer dazugestoßen, oft aus kroatischen „Zwischenlagern“. Die Flüchtlinge wohnten zunächst mit einer mehrhundertköpfigen Gruppe von Asylsuchenden aus Ex-Jugoslawien zusammen. Aber während die „Asylanten“ mittlerweile auf Wetzlar und Umgebung verteilt sind, während deren Kinder eingeschult sind und sie selbst Sozialhilfe beziehen, sind die Flüchtlinge – nach anderthalb Jahren – immer noch kaserniert. Die Erwachsenen erhalten pro Kopf 81 Mark Taschengeld im Monat, die Kinder sechs Mark.

Bis jetzt war ihre Aufenthaltserlaubnis auf jeweils sechs Monate begrenzt, was dazu führte, daß für keines der 250 „Lagerkinder“ Lehrverträge abgeschlossenen werden konnten. Quasi unterderhand hat die Flüchtlingshilfe ein gutes Dutzend Kinder mit mittlerweile ausreichenden Deutschkenntnissen in den Wetzlarer Schulen untergebracht.

Die lange Kasernierung zermürbt die Widerstandskraft selbst der robustesten Flüchtlinge und hält die Kinder im Trauma der Vertreibung gefangen. Mina M., Lehrerin, ist mit ihrer Tochter aus Tuzla geflohen und unterrichtet die Halbwüchsigen jetzt in einer von der Flüchtlingshilfe auf dem Kasernengelände improvisierten Schule. „Die Kinder“, resümiert sie traurig, “können nicht vergessen, der Haß vergiftet ihre Seelen.“ Sie gibt den Schülern auf, über ihre Träume zu schreiben. Einer erzählt, er habe im Traum mit seinen fünf Brüdern gegen eine andere Straßenmannschaft Fußball gespielt. Keiner der Brüder ist mehr am Leben. Ein anderer träumt, wie seine Mutter in der heimischen Küche Berge bosnischer Spezialitäten zubereitet – er hat sie seit Sommer 1992 nicht mehr gesehen. Manche der Kinder ziehen ihre Kurven zwischen den Kasernenblocks auf Fahrrädern, die die Flüchtlingshilfe für sie gesammelt hat. Die wenigen, die jetzt auf deutsche Schulen gehen, sind vereinsamt. Sie empfinden ihr Verhältnis zu den deutschen Schulkameraden – bei aller Hilfsbereitschaft – als kalt und distanziert. Das Reglement des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) für das Flüchtlingslager zeugt von wenig Einfühlungsvermögen, daran ändert auch der persönliche Einsatz des „Lagerleiters“ nichts. Bis jetzt mußten die Flüchtlinge das in Alu- Folien eingeschweißte, zentral gelieferte Essen abnehmen. Eine karg bemessene warme Mahlzeit mittags, früh die Minibutter- und Marmeladendöschen, abends Wurst und Käse in der Plastikfolie. Jetzt werden, eine der Haupterfolge des Streiks, gemeinsame Teeküchen in jedem Stockwerk eingerichtet. Nach wie vor wandern viele Portionen des Mittagessens auf die Müllcontainer. Das Problem ist solange nicht lösbar, wie man sich weigert, den Flüchtlingen den vorgesehenen DM-Betrag zu übergeben, so daß sich selbst verpflegen können. Im Bermuda- Dreieck zwischen Regierungspräsidium, Rotem Kreuz und kommunalen Stellen verschwinden jede Menge Bitten und Initiativen. Wie lange dauert es, bis Waschmaschinen genehmigt, geliefert – und installiert werden? Wie viele Hürden sind für die Einrichtung einer aus Spenden alimentierten Kleiderkammer zu nehmen, die angesichts der einmaligen Ausrüstung der Flüchtlinge durch eine Garnitur Unterwäsche und ein paar Schuhe so bitter nötig ist? Wieviel Monate gehen ins Land, bis durch die Kommune überprüft wird, ob die Brandschutzbestimmungen eingehalten werden?

Mißtrauen regiert. Dolmetscher, die mit serbischer Klangfärbung sprechen, werden zurückgewiesen. Die Flüchtlinge klagten während der Sitzblockade die Sozialarbeiter-Dolmetscher des DRK an, ihre Forderungen nicht , oder nicht korrekt zu übersetzen. Man will keinen Kontakt mit dem jugoslawischen Kulturverein, weil dessen Mitglieder, alles alte Gastarbeiterfamilien, beschlossen hatten, daß sie, unabhängig von der Nationalität, zusammenbleiben wollen. Zeiten der Angst sind günstig für die Seelenretter. Zwei Hodschas tauchten bislang auf, um den Muslims geistig beizustehen. Der eine kam von den türkischen Islamisten aus Köln und wollte prompt auf dem Kasernengelände eine Koranschule aufmachen, was vom DRK unter Hinweis auf die weltanschauliche Neutralität der Organisation unterbunden wurde. Wie gesagt, die bosnischen Muslims sind weltlich gesinnt, aber sie sagen auch, ihre Kinder würden gerne zum Hodscha gehen. Da hilft auch der Hinweis nichts, daß es in Wetzlar drei Moscheen gibt.

Aber was die Flüchtlinge wirklich quält, was auch das eigentliche Motiv ihrer Streikaktion war, ist die Unmöglichkeit zu arbeiten. „Wir werden am ersten Tag nach Bosnien zurückgehen, wo das möglich ist, aber unsere Häuser werden zerstört sein und unsere Gärten verwüstet. Wer wird uns Kredite geben können? Wir brauchen einfach etwas Geld für den Wiederaufbau! Niemand wird uns glauben, daß es im reichen Deutschland unmöglich war, irgend etwas zu verdienen!“ So Alija und Džehad, die Streikführer. Bis jetzt haben sich einige der Flüchtlinge schwarz verdingt, für rund fünf Mark die Stunde im Dienstleistungsgewerbe. Eine Baufirma aus Wetzlar hat um Arbeitskräfte nachgefragt, wurde aber abschlägig beschieden. Ab Januar 1994 werden die Kasernen-Flüchtlinge Wetzlars unbefristet geduldet werden, aber das wird ihre Beschäftigungsaussichten kaum verbessern. Denn die seit Sommer dieses Jahres gültigen Bundesrichtlinien schreiben vor, eine Arbeitserlaubnis erst dann zu erteilen, wenn sich weder ein Deutscher noch ein EG- Angehöriger, noch ein „Neutraler“ aus der Mitte oder dem Norden Europas bereit findet, den Job zu übernehmen.

Der Regierungspräsident Bäumer drängt schon seit Monaten darauf, die Flüchtlinge auf Mittelhessen zu verteilen, so daß ihnen dann Sozialhilfe gewährt werden kann. Vielleicht wird es auch Kindergeld geben (wie in Hanau illegal, aber human praktiziert). Anfang Januar, hat er den Streikenden in Wetzlar versprochen, startet die Aktion. Aber wie lang wird sie dauern, und werden die Jobchancen, etwa in einem ehemaligen Aussiedlerheim im Westerwald, wirklich größer sein als in der Wetzlarer Kaserne? „In Wetzlar“, sagt Bettina Twrsnik, „haben wir Mitleidserschöpfung.“ Ursprünglich hatten sich 50 Familien für Patenschaften gemeldet, einige sind abgesprungen, die anderen kümmern sich mehr oder weniger sporadisch um ihre Schützlinge. Jetzt soll eine Carepaket-Aktion zu Weihnachten für die Teeküchen die Hilfswilligen aufs neue mobilisieren. Der Bosnien-Hilfe stehen in Wetzlar noch eine Handvoll Initiativen zur Seite, zum Beispiel das Frauenhaus, das Beratung und Hilfe anbietet. Ein „runder Tisch“ der Flüchtlinge und aller involvierten staatlichen und privaten Stellen soll noch im Dezember eingerichtet werden. Auch ein Erfolg des Streiks. Aber diesen positiven Zeichen zum Trotz wendet sich die Stimmung in Wetzlar zunehmend gegen die bosnischen Flüchtlinge. Im Dunstkreis ehemaliger Bundeswehrangehöriger hat sich eine Initiative gegen Asylmißbrauch gebildet, die die Kriegsflüchtlinge zum neuen Haßobjekt erkoren hat. Jetzt wird die Angst vor Verbrechen, Prostitution und Drogen gegen die Einwohner der Sixt-von- Arnim-Kaserne gewendet. Und zwischen den Basisaktivisten und den Flüchtlingen Wohlgesinnten an der Spitze von Ministerien beziehungsweise Regierungspräsidien breitet sich, wie eh und je, der Sumpf routinierter Verwaltungstätigkeit aus. Kopf hoch, Bettina, maschallah!

* Namen von der Redaktion geändert