Sitten wie im Knast

Auch in Polens Schulen explodiert die Gewalt gegen Schwächere  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Der Priester, der in der Grundschule Nr. 7 in Kielce vor einigen Wochen auf einem Schulausflug mit einem Schuß aus der Gaspistole reagierte, nachdem ihn einer seiner Schüler mit einem Knallfrosch erschreckt hatte, wurde durch die Zeitungen inzwischen im ganzen Land bekannt. Von seinen Lehrerkollegen unterscheidet sich der Priester indessen vor allem dadurch, daß er die Aggressivität seiner Zöglinge überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Die Lehrer einer Schule in Stettin erfuhren erst aus der Zeitung, daß sich unter ihren Augen Zustände herausgebildet hatten, wie man sie in Polen zumeist aus Gefängnissen und dem Militär kennt. Sie beruhen auf der schlichten Maxime, daß Ältere Jüngere unterdrücken, bis die Jüngeren alt genug sind, ihre Aggressionen an Neuzugängen abladen zu können. In der Armee heißen die Opfer „Katzen“ und werden von Dienstälteren zu allerlei sinnlosen und möglichst erniedrigenden Tätigkeiten gezwungen, die meistens in körperlicher Gewalt enden. Und genau das hat Polens Schuljugend inzwischen aus der Armee und dem Knast, in dem sie nie war, übernommen. So müssen Erstkläßler nun unter den Augen der Älteren Höhe, Breite und Länge des Klassenzimmers mit Streichhölzern ausmessen, auf dem Klo mit dem Kopf in der Schüssel „Fische suchen“ oder sich als Initiationsritus Gürtel über den nackten Hintern ziehen lassen. In einer Kattowitzer Schule veranstalteten Schüler sogar ein Übungsschießen mit Luftdruckpistolen auf ihre Kameraden. Psychologen fanden heraus, daß die Jugendsprache in den Schulen der polnischen Großstädte immer mehr Übereinstimmungen mit dem Wortschatz von Strafgefangenen annimmt. Die Schule heißt inzwischen „Knast“, „Anstalt“, „Alcatraz“, „schwedische Gardine“.

Wieslaw Sokoluk, seit 25 Jahren in der Familienberatung in Warschau tätig, hält das für untertrieben. Er spricht von einer „Eskalation der Gewalt“, die ihren Anfang Ende der siebziger Jahre gehabt, aber in den letzten Jahren dramatisch zugenommen habe. „Worüber die Zeitungen schreiben, ist nur die Spitze eines Eisberges“, erklärt er. „Über die meisten Fälle wissen wir gar nichts, weil alle schweigen. Die Eltern der Täter sowieso, die Schüler gegenüber den Eltern und die Lehrer, weil das sonst ja ein Eingeständnis ihrer Niederlage wäre.“ Sokoluk erfährt von der alltäglichen schulischen Gewalt daher vor allem von den Eltern der Opfer, die in seine Beratungsstunden in der Warschauer Innenstadt kommen, und am Rande von Gesprächen, die er mit Lehrern führt, wenn er als Sexualerzieher Vorträge in Schulen und Internaten hält. „Die Schüler“, beschreibt er seine Beobachtungen in den Schulen, „sind heute viel aggressiver als früher und wissen überhaupt nicht, wie sie damit umgehen sollen.“ Eines Tages kam Wieslaw Sokoluk in solch eine Klasse, „die Aggressivität lag regelrecht in der Luft“. Er ließ alle Schüler aufstehen und mit voller Kraft auf die Bänke schlagen. Der Effekt war so durchschlagend, daß die ganze Schule zusammenlief. „Hätte ich sie stampfen lassen, wären wir alle zusammen im nächsten Stockwerk gelandet.“

Sokoluk sieht vor allem drei Ursachen für die Explosion der Gewalt an Polens Schulen: den Zerfall des in Polen sehr tief verwurzelten Familiensinns, die Brutalisierung der Umwelt durch Videos, Kino und Fernsehen und die Tatsache, daß rücksichtsloses Verhalten nicht geahndet wird. „Natürlich gab es auch früher Prügeleien in der Schule, aber die Aggressionen entluden sich unter Einhaltung bestimmter Regeln: Wer auf dem Boden lag oder sich ergab, wurde nicht noch getreten, Kleinere und Schwächere wurden nicht zuerst angegriffen, wer verprügelt wurde, wurde nicht auch noch ausgeraubt.“ Heute richte sich die Aggressivität sogar gegen die Lehrer: „Drohungen sind an der Tagesordnung.“ Geringer ist das Gewaltpotential auf dem Land. Manche Lehrer berichten gar vom umgekehrten Effekt: Die Schüler rücken dort mehr zusammen.

Andrzej K. dagegen ist Elternberater in einer der Warschauer Trabantenstädte. Sein Sohn hat eine solide Karateausbildung erhalten, die ihn, so Andrzej K., bereits einige Male vor erheblichen Körperverletzungen und Schlimmerem bewahrt habe. Seit einiger Zeit beschränkt sich der Rat, den Andrzej K. den bei ihm Hilfe suchenden Eltern gibt, darauf, ihnen radikale Selbsthilfe zu empfehlen. „Es gibt hier einige Schulen, in denen sich die Eltern nicht anders zu helfen wußten, als ihrerseits die Banden, die ihre Kinder terrorisierten, nach der Schule abzupassen und so durch die Mangel zu drehen, daß sie genug hatten. Natürlich weiß ich, daß das keine Lösung ist und nur neue Gewalt erzeugt, aber was soll ich den Leuten denn raten, wenn nicht einmal das Angebot an die Polizei, zwei ständige Streifen vor der Schule aus der eigenen Tasche zu finanzieren, etwas hilft?“

In anderen Schulen eskortieren die Eltern nun ihre Schüler nach Hause und haben Bereitschaftsdienste für die Pausen eingerichtet, in denen sie durch die Gänge patrouillieren. Wieslaw Sokoluk: „Würden die Schüler nicht so passiv reagieren, wäre auch schon viel gewonnen. Man muß sich ja die Frage stellen, warum sich eine Klasse von einer Handvoll Rabauken terrorisieren läßt.“ Dann gibt er sich selbst die Antwort: „Unsere Kinder wurden zu lange zu konformistisch erzogen. Das gleiche gilt für die Eltern. Zivilcourage und Mut sind Eigenschaften, die schon lange keine Konjunktur mehr haben in unserem Land.“