Ein Friedensrezept?

In Belfasts katholischen und protestantischen Quartieren überwiegt Skepsis gegen die anglo-irische Annäherung / Angst vor Gewalt ist geblieben  ■ Aus Belfast Ralf Sotscheck

Kevin gähnt. „Das ganze Viertel schaut gebannt auf Gerry Adams“, sagt er und nimmt noch einen Schluck Whiskey. „Bis vor ein paar Tagen saßen sogar Dutzende von Reportern mit Satellitensendern in einem Wohnwagen vor dem Sinn- Fein-Hauptquartier und lauerten auf ein Zeichen.“ Doch der Präsident von Sinn Fein, dem politischen Flügel der IRA, hat erklärt, daß seine Partei die gemeinsame Erklärung des britischen Premierministers John Major und dessen irischen Amtskollegen Albert Reynolds, die vergangenen Mittwoch vorgelegt wurde, zunächst genau studieren werde, bevor man sich dazu äußert. Bis dahin sei an einen IRA-Waffenstillstand – abgesehen von der traditionellen Kampfpause zu Weihnachten – nicht zu denken, wie die Organisation mit neuen Bombenanschlägen am Wochenende unterstrich.

„Politiker und Presse wollen uns einreden, daß die Erklärung von Major und Reynolds Frieden nach Nordirland bringen wird“, sagt Kevin. „Aber was steht denn Neues drin? Es gibt kein vereintes Nordirland, solange das die Protestanten nicht wollen. Die Erklärung nimmt hier doch niemand ernst.“

Die Rentnerin Jean, die am Nachbartisch in der Rock Bar auf der katholischen Falls Road in West-Belfast sitzt, widerspricht: „Ich glaube, die IRA ist zu einem Waffenstillstand bereit. Was bleibt ihr nach 25 Jahren Krieg auch übrig? Die Frage ist, ob sie mehr erreicht, wenn sie zehn Jahre weiterkämpft oder wenn sie jetzt verhandelt, wie Major und Reynolds angeboten haben. Die Frage ist natürlich, ob die Loyalisten dann auch die Waffen ablegen.“

Fergal, ein Grundschullehrer, glaubt nicht, daß die IRA einen Waffenstillstand eingehen sollte: „Die IRA muß sich auf ihre eigentliche Rolle besinnen und sich auf die Verteidigung der katholischen Viertel konzentrieren. Das hat Ende der sechziger Jahre schließlich zu ihrer Wiederbelebung geführt. Damit wäre erst mal der immense Druck weg, der durch die Erwartungen der Presse und auch der Leute im Viertel entstanden ist. Außerdem muß Sinn Fein endlich den Friedensplan vorlegen, den Gerry Adams und John Hume, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, ausgearbeitet haben.“

Auf jeder freien Fläche an der Falls Road und ihren Seitenstraßen fordern Wandmalereien zur Unterstützung des „Hume- Adams-Plans“ auf, obwohl die beiden Politiker das Ergebnis ihrer Gespräche noch immer nicht öffentlich gemacht haben. „Egal was drinsteht“, sagt Kevin. „Weniger als bei der Major-Reynolds-Erklärung kann dabei für uns nicht rauskommen. Was die beiden Regierungen ausgeheckt haben, ist kein Rezept für Frieden in Nordirland.“

In diesem Punkt stimmt Derek in der Kneipe „Berlin Arms“ auf der protestantischen Shankill Road zu: „Die Erklärung von Major und Reynolds wird uns keinen Frieden bringen.“ Hier enden die Gemeinsamkeiten jedoch schon. „Wir sind wieder mal verraten worden“, fährt Derek fort. „Erst haben sie uns unser nordirisches Parlament weggenommen, dann die Kontrolle über die Polizei und inzwischen auch die Jobs in unserer Werft. Jetzt wollen sie uns auch noch unsere Staatsbürgerschaft nehmen.“

Die Shankill Road führt parallel zur Falls Road von der Belfaster Innenstadt in Richtung Westen. Die Querstraßen, die beide Straßen früher verbunden haben, sind heute mit einem Wellblechzaun – der „Friedenslinie“ – abgetrennt. Zu Fuß traut sich niemand durch das Niemandsland zwischen Falls und Shankill. Man muß zurück in Richtung Innenstadt laufen und dann links nach Millfield abbiegen. Nach ein paar hundert Metern geht die Shankill Road links ab. Ihr unteres Ende ist ebenso wie die Falls hauptsächlich Wohngebiet. Erst hinter dem Sportzentrum, einem großen, grauen Kasten, und der gegenüberliegenden protestantischen „Gospel Hall“ beginnt die Einkaufsmeile.

Die Straße ist voller Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigen. Autos kommen nur mit Schrittgeschwindigkeit voran. Vor einem Schaufenster auf der linken Seite stehen vier Jugendliche und sehen sich die Auslage an: bunte Schals, Wollmützen und T-Shirts. Was auf den ersten Blick wie der Laden eines Fußball-Fanclubs aussieht, entpuppt sich als „Historische Gesellschaft der Shankill Road“. Geschichte wird hier freilich recht einseitig interpretiert: Auf Schals, Mützen und Hemden prangt die Jahreszahl 1690, manchmal auch „King Billy“ auf einem weißen Pferd. Wilhelm von Oranien, der bei Nordirlands Protestanten familiär „King Billy“ heißt, besiegte am 12. Juli 1690 in der Schlacht am Boyne den katholischen König Jakob II. und sicherte dadurch die protestantische Thronfolge. Der Jahrestag wird noch heute in den protestantischen Vierteln Nordirlands gefeiert, als sei die Schlacht erst gestern gewonnen worden.

Angesprochen auf die Major- Reynolds-Erklärung, sagt einer der Jugendlichen, der den Kopf tief eingezogen und den Jackenkragen hochgeschlagen hat, um sich vor dem Regen zu schützen: „Historisches Ereignis? Das einzige historische Ereignis ist der 12. Juli.“ Sein Kumpel, ein hagerer 17jähriger, meint: „Es gibt genug Platz auf der anderen Seite der Grenze. Sollen die Katholiken doch dort hinziehen. Was wollen die überhaupt mit einem vereinigten Irland. Die sind doch ganz zufrieden, daß sie hier ihr Kindergeld kassieren können – mehr als sie im Süden je bekommen würden. Die britische Regierung pumpt Millionen in die katholischen Viertel, und wir gehen leer aus.“ Haben die vier die Erklärung überhaupt gelesen? „Wir wissen auch so, was drinsteht“, sind sie sich einig. „Wir sollen an den Papst und seine Helfershelfer in Dublin ausgeliefert werden.“

Nach der nächsten Querstraße liegt auf der linken Seite die „West Kirk“, eine presbyterianische Kirche. Im Vorgarten hinter einem hohen Eisengitter hat man einen Holzverschlag mit einem kleinen Podest aufgebaut, auf dem ein Mikrofon steht. Das Kabel führt zu zwei großen Lautsprechern, die wegen des stärker werdenden Regens mit schwarzen Plastiksäcken überzogen sind. Ein Mann erzählt in eintönigem Singsang, wie Gott ihn vom Alkoholismus befreit hat.

Niemand bleibt stehen und hört zu. Im Gegenteil: Eine Gruppe von Männern verschwindet im schräg gegenüberliegenden „Berlin Arms“ an der Ecke Berlin Street. Die langgezogene Kneipe ist mit Girlanden und Holunderzweigen weihnachtlich dekoriert. Obwohl hier auch kleine Mahlzeiten angeboten werden, stehen lediglich große Biere auf den Tischen. In der Kneipe ist keine einzige Frau. „Meine Frau macht Weihnachtseinkäufe und deponiert die vollen Plastiktüten bei mir“, sagt Derek. Er hat früher auf der Werft „Harland and Wolff“ gearbeitet, wo die „Titanic“ gebaut wurde. Seit zwei Jahren ist er arbeitslos. „Die Torys haben kein Interesse mehr an uns“, sagt er. „Ob wir Arbeit haben oder nicht, das ist ihnen völlig schnuppe. Aber alle reißen sich den Hintern auf, um es der IRA recht zu machen. Da erzähl' mir noch jemand, daß sich Gewalt nicht auszahlt. Meine beiden Söhne sind neun und elf. Wenn die in ein paar Jahren beschließen, in eine der bewaffneten loyalistischen Organisationen einzutreten, werde ich sie nicht daran hindern können.“

„Kein Mord ist gerechtfertigt“, sagt Dereks ebenfalls arbeitsloser Freund Malcolm, schränkt jedoch sogleich ein: „Aber jedesmal heißt es zunächst, daß es unschuldige Katholiken getroffen hat. Meistens gibt die IRA später doch zu, daß dieser oder jener Mitglied war. Wir sehen jedenfalls nicht zu, wie sie unsere Leute umbringen. Wenn die IRA einen Waffenstillstand eingeht, heißt das noch lange nicht, daß sie ihr Ziel aufgegeben haben. Solange uns ein vereinigtes Irland droht, müssen die loyalistischen Paramilitärs tun, was sie für richtig halten.“

Hundert Meter weiter die Shankill Road hinauf klafft rechts zwischen zwei Häusern eine Lücke. Hier stand der Fischladen, der am 23. Oktober von der IRA in die Luft gesprengt wurde. Zehn Menschen kamen dabei ums Leben. In der darauffolgenden Woche ermordeten protestantische Organisationen aus Rache 13 Katholiken. Die Häuserlücke ist mit hohen Spanplatten vernagelt. An den Platten sind etwa zwei Dutzend Kränze befestigt. Doch die Holunderkränze hängen hier nicht zum Gedenken an die Opfer des IRA- Anschlags, sondern gehören dem benachbarten Blumenladen Stevenson und sind zum Verkauf bestimmt. Lediglich in der Ecke ist ein kleines Gebinde und ein Plastikkärtchen mit den Namen von neun der Getöteten angebracht. Der zehnte Tote war der IRA- Bomber.

Eine ältere Frau, die sich eine Plastikhaube um den Kopf geschnürt hat, unter der graue Strähnen herausschauen, sagt: „Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wenn es sein muß, schaffen wir es auch alleine in einem unabhängigen Nordirland. London will uns nicht, Dublin will uns auch nicht. Die Paramilitärs sind alles, was wir haben. Wem können wir denn sonst noch trauen?“

In der Innenstadt sind nachts um zwei noch Tausende von Menschen unterwegs. Außerhalb der katholischen und protestantischen Ghettos hat das Nachtleben im vergangenen Vierteljahrhundert nur selten unter dem Krieg gelitten. Seit eine Gesetzesänderung den Pubs verlängerte Öffnungszeiten einräumt, ist an den Wochenenden noch mehr los. Kelly's, eine der ältesten Kneipen Belfasts, ist gerammelt voll. Joanne, die an der Technischen Hochschule Englisch unterrichtet, feiert den Beginn der Weihnachtsferien. „Einen anderen Grund zum Feiern gibt es nicht“, sagt sie. „Die gemeinsame Erklärung von Reynolds und Major bringt auch nichts. Es wird eher noch schlimmer.“

Joanne wohnt an der Lisburn Road in einem vornehmen und weitgehend friedlichen Viertel. „Einer protestantischen Freundin von mir, die ein paar Straßen weiter wohnt, haben Loyalisten letzte Woche eine Bombe durch das Fenster geworfen. Der Sachschaden war gering, aber die Polizei riet ihr, sofort die Koffer zu packen. Sie ist mit ihrem katholischen Mann und den drei Töchtern zu ihrer Schwiegermutter gezogen.“ Es war bereits die vierte gemischt-konfessionelle Familie, die innerhalb von einer Woche aus der Straße verjagt wurde. Joanne, die Ende der sechziger Jahre in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war, glaubt, daß Gerry Adams Schwierigkeiten haben wird, alle Parteimitglieder, die IRA-Aktivisten und die Gefangenen von der Initiative beider Regierungen zu überzeugen. „Die Gefangenen werden den Ausschlag geben“, glaubt sie. „An ihnen kommt Adams nicht vorbei.“ Und der Journalist Ed Moloney meint: „Es gibt vielleicht nur einen Ausweg für Adams: Er muß den Prozeß hinauszögern und mit John Hume im Gespräch bleiben, gleichzeitig die Aktivitäten der IRA zurückschrauben und den Hume-Adams-Plan als alternative Verhandlungsbasis benutzen. Die Frage ist nur: Kann die IRA so lange warten? Kann sie es sich leisten, in einen langen, wenn auch inoffiziellen Waffenstillstand gezogen zu werden? Und wie lange sind die beiden Regierungen bereit zu warten?“