■ tageszeitungs-Roman, Teil I
: Stille Nächte auf Tahiti – von Albrecht Lampe

„Eigentlich ist Tahiti überall“, dachte Erwin Schierhold und räkelte sich im warmen Sand des Sahlenburger Strandes. Er genoß es, an Sommerwochenenden dorthin zu fahren wo die Weser in die Nordsee mündet, wenngleich ihm die Symbolkraft des Fließens in die unendlich scheinende Weite des Meeres nicht bewußt werden sollte. Von derlei Deutungen hielt der Filialleiter der Bremer Sparkasse Am Dobben ohnehin nichts. „Ich sage immer, was Sache ist“, pflegte er seinen angestellten Kolleginnen und Kollegen mitzuteilen und hatte dabei bisweilen einen etwas verloren wirkenden herrischen Zug um den Mund. Manchmal, wenn es ihm besonders nötig erschien, fügte er ein „und um die Sache geht es, um nichts anderes“ hinzu.

Dann verfolgten die Angestellten seinen Rücken mit einer Mischung aus Respekt und routinemäßiger Aufsässigkeit, denn er drehte sich nach diesem ergänzenden Hinweis immer um und betrat mit raschem Schritt sein Büro.

Der Sand klebte an Schierholds Oberschenkeln und Ellenbogen. Seine auberginefarbene, mit großflächigen Rauten gemusterte Badehose wies Schlammspuren auf. Er war lange im Watt gewesen und hatte sich dort ab und zu einige hastige Sprints verordnet, unbeobachtet gewissermaßen.

Unbeobachtet auch von Frau Horstkotte, der Filialkassiererin. Sie zeigte, wie er meinte, ein dezentes Interesse an ihm, unwillkürlich straffte er den Rücken, wenn er an sie dachte. Allerdings war er sich nicht sicher, ihr stets volantgeschmückter hochgeschlossener Blusenkragen hatte auch etwas Zurückweisendes. In einem seiner unruhigen Träume trug sie einmal einen Halsschmuck aus Stacheldraht. Er verscheuchte etwaige unangebrachte Gedanken, indem er mit der flachen Hand kurz auf den weißen Sand schlug.

Die Familie im Strandkorb neben ihm war, ermattet von der Sonne, in einen streitsüchtigen Dämmerzustand verfallen. Weit hinter der sich rasch nähernden Wasserlinie zog ein weißes Bäderschiff in Richtung Nordsee, die Möwen kicherten heiser im stetigen lauen Südost. Tiefer Friede breitete sich in Erwin Schierhold aus, er döste sich aus der Welt der Kontoauszüge und Sicherheitsvorschriften in das Ambiente jener Menschen, die eigentlich könnten, wenn sie etwas zu wollen hätten.

Tahiti war natürlich nur ein Wort. Es war in ihm entstanden, einer unvorhergesehen sich öffnenden Blüte gleich, inmitten alltäglicher Wüstenei. Tahiti entstand in Erwin Schierhold durch die zarte Berührung einer Krankenschwesterhand während des Erwachens aus der Narkose für eine Operation an seinen Bandscheiben. Wie durch glitzernde Regentropfen auf einer Fensterscheibe sah er mit langsam werdendem Bewußtsein tief in die graugrünen Augen der Schwester Gabriele Horstmann. Er nahm auch wahr, wie die Hand, die kurz zuvor noch seine Stirn berührt hatte, eine der widerspenstigen braunroten Krankenschwesterlocken beiseite strich. „Tahiti“, dachte Erwin Schierhold und versank wieder in tiefen Schlaf.

Tahiti also, Quelle unsteter Glückszustände, undeutlicher Sehnsüchte in einem sehr ordentlichen Leben.

Ja, ordentlich war Erwin Schierhold. Darum zwinkerte man sich in der Filiale Am Dobben wie auch in der Zentrale bedeutungsvoll zu, wenn die Jahresrechnungsberichte auf den Tischen lagen. Jeder wußte, an ihnen gäbe es nichts zu deuteln, mochte man auch noch so viel berufsmäßige Skepsis aufbringen. Wenn nur die sich mit peinigender Stetigkeit wiederholenden Überfälle auf Schierholds Filiale nicht wären! Nicht, daß er durch diese meist mit schriller Ängstlichkeit vorgebrachten Aufforderungen und Drohungen um sein Leben oder das seiner Angestellten fürchtete – er fand Banküberfälle einfach unordentlich. Aus Prinzip unordentlich. Noch Tage nach einem dieser Unordnung stiftenden Eingriffe schauderte ihm. Ihm schauderte vor allem aber, wenn er die fehlende Summe unter „Sonstigen Aufwendungen“ ausbuchen mußte.

Vor einiger Zeit hatte er übrigens Frau Horstkotte angewiesen, ihre herzzerreißenden Entsetzensschreie zu unterlassen, wenn die Bank wieder ungebetenen Besuch bekam. Richtig angewiesen hatte er sie, für ihn war ihre aus tiefster Seele hervorbrechende Angst die eigentliche Schrecknis des unerfreulichen Vorgangs, neben aller Unordnung.

Auf Tahiti gab es keine Sparkassenfiliale, so viel war sicher...

Fortsetzung folgt