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Rauschen und Knistern in der Leitung

Die Telekommunikationshersteller haben sich mit der einseitigen Abhängigkeit der Bundespost in die Krise manövriert / Entwicklungen verschlafen / Produktionsverlagerung ins Umland  ■ Von Severin Weiland

Die Lage ihres Betriebes können die Beschäftigten bei „Bosse“ am Geräuschpegel messen. Still ist es in jenen Bereichen, die eigentlich der Fertigung vorbehalten sind. „Da ist manchmal wirklich nichts mehr los“, sagt ein Mitglied des Betriebsrates. Viele altbekannte Gesichter fehlen bereits; bis Ende März nächsten Jahres entläßt der Telekommunikationshersteller 150 von insgesamt 416 Beschäftigten.

Resignation macht sich breit auf dem Unternehmensgelände an der Reichenberger Straße in Kreuzberg. Selbst die kräftige Abmagerungskur scheint an der desolaten Lage nichts zu ändern, wie aus dem Betriebsrat zu hören ist: Die Auftragslage der Telekom für 1994 sei „sehr schlecht“, mit weiteren Entlassungen muß daher gerechnet werden.

Mit „Bosse Telekomsysteme“ droht wiederum eine alteingesessene Berliner Traditionsfirma zu verschwinden. Das seit 105 Jahren in Kreuzberg beheimatete Unternehmen, in dem hauptsächlich Telefonreihenanlagen hergestellt werden, läuft leck. Mit rund 85 Millionen Mark Umsatz war in diesem Jahr gerechnet worden, mit unter sechzig Millionen wird aller Voraussicht nach abgeschlossen.

Am Beispiel „Bosse“ – einem relativ kleinen Unternehmen – läßt sich die Krankheit der Berliner Telekommunikationsbranche ablesen. Jahrelang vertraute man auf Aufträge der Deutschen Bundespost, zusätzlich Entlastung brachten zu Mauerzeiten die kräftigen Bundessubventionen. Die Abart des Westberliner „Staatssozialismus“ schaukelte gerade Unternehmen wie „Bosse“ in die Katastrophe. Noch nicht einmal einen Anteil von fünf Prozent, so ein Mitglied des Betriebsrates, hält das Unternehmen am privaten Markt.

Trotz der öffentlichen Diskussionen um die Umstrukturierungen der Post seien Entwicklungen regelrecht „verschlafen“ worden: Wer etwa aus gutgemeinter Solidarität einen Anrufbeantworter mit dem Markennamen „Bosse“ kaufen will, sucht vergeblich. Ein solches Gerät, wie es in den Kaufhäusern seit längerem von vielen Herstellern angeboten wird, steckt bei „Bosse“ noch in der Entwicklungsphase. „Da ist wirklich sehr viel schiefgelaufen“, meint der Kreuzberger IG-Metall-Stadtteilsekretär Reinhold Weißmann.

Seitdem die Deutsche Bundespost dreigeteilt wurde und die Telekom als Hauptabnehmer – und Auftraggeber – plötzlich hart kalkuliert, kommen viele Betriebe in stürmische Gewässer. Weniger dramatisch, aber ebenfalls angespannt ist die Lage bei der „Deutschen Telephon Werke AG und Co“ (DeTeWe). Ende Oktober arbeiteten im Stammhaus an der Wrangelstraße in Kreuzberg noch 2.099 Personen, im Monat zuvor waren es noch 2.162. Vorsorglich war in diesem Jahr bereits vom Vorstand beim Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg die mögliche Entlassung von rund 500 Beschäftigten – davon die Hälfte aus dem gewerblichen Bereich – angekündigt worden.

Nun aber, nachdem sich die Auftragslage verbessert hat, ist der Vorstand von den Plänen wieder abgerückt, erklärt der Kreuzberger DeTeWe-Betriebsratsvorsitzende Thomas Grein: „Die Entlassungen im kommenden Jahr sollen nunmehr unter zehn Prozent der derzeitigen Gesamtbelegschaft liegen.“

Trotz des verhaltenen Optimismus sieht Grein den neuesten Versprechungen mit einer gehörigen Portion Skepsis entgegen: „Mir fehlt der Glaube, daß es auch bei diesen Zahlen bleiben wird.“ Den Gerüchten, die von einer völligen Aufgabe des Stammhauses wissen wollen, tritt Unternehmenssprecher Horst Rödiger vehement entgegen: „Das steht überhaupt nicht zur Debatte.“ Mittelfristig sei aber eine Verlagerung der Produktion nach Hoppegarten nicht auszuschließen, gibt Rödiger zu bedenken. Der Kreuzberger Standort solle mehr und mehr in einen Brain-Trust mit den Bereichen Verwaltung, Entwicklung und Vertrieb umgewandelt werden.

Rund 250 Beschäftigte aus dem Kreuzberger Stammhaus und 100 von DeTeWe-TSB aus Weißensee sind bereits in das neue Werk im brandenburgischen Hoppegarten umgezogen. Noch im August war bei der Eröffnung der Fertigungsanlage, in der Endgeräte und Kommunikationssysteme gebaut werden, die Schaffung von 500 Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren versprochen worden. Doch das mit großer Politprominenz – darunter Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) – eingeweihte Werk steckt in Schwierigkeiten. Zwischen achtzig und hundert Arbeitsplätze sind nach Angaben der IG Metall am Standort Hoppegarten bedroht. Hinzu kommen Schwierigkeiten unter den Ost- und Westbeschäftigten, die mit erheblich auseinanderklaffenden Tariflöhnen in Teams zusammenarbeiten müssen. „Die Differenz eines Bruttolohnes zwischen dem Kreuzberger Arbeiter und seinem Kollegen aus Weißensee liegt im Durchschnitt bei rund 1.100 Mark brutto“, erklärt IG- Metall-Stadtteilsekretär Weißmann die Lage.

Einen Befreiungsschlag für Hoppegarten sollen ein neues Telefon, die Nebenstellanlagen Varex 200 und Varex 14 sowie ein Telefonanrufbeantworter auf Chipbasis bringen. Mit der Präsentation auf der Cebit-Messe kommenden Jahres in Hannover verbindet das Unternehmen Hoffnungen auf Großaufträge der Telekom. Obwohl sich nach Angaben von Grein – zugleich auch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat von DeTeWe – bereits über fünfzig Prozent der DeTeWe-Geschäfte im privaten Sektor abspielen, hängt das Unternehmen nach wie vor an der Telekom wie der Patient am Tropf.

Hart zur Sache geht es beispielsweise bei der Vermittlungstechnik im öffentlichen Netz, auf das die Telekom weiterhin ein Monopol hat. Installierte Anlagen werden den Firmen erst bezahlt, wenn auch die Anschlüsse belegt worden sind. Das kann mitunter dauern. „Vorfinanzierung durch die Industrie“ nennt DeTeWe- Sprecher Rödiger diese Geschäftspolitik der Telekom.

Wie stark die Abhängigkeit ist, verdeutlicht auch ein anderes Beispiel: Um die Fertigung im Stammhaus auszulasten, hofft DeTeWe auf einen Großauftrag bei der Glasfasertechnik, wo seit längerem mit dem US-Unternehmen „Raynet“ kooperiert wird. Hier fielen bei der Herstellung auch ein Gutteil mechanischer Tätigkeiten an, meint Grein.

Ebenso wie „Bosse“ hat auch DeTeWe den Zeitgeist sträflich vernachlässigt. Im DeTeWe- Funkhaus in Köpenick mit rund 300 Beschäftigten werden zwar schnurlose Telefone und Funktelefone hergestellt. Die Entwicklung käme aber auch dort „reichlich spät“, glaubt IG-Metall-Sekretär Weißmann. Viele werbewirksame Texte zur Zukunft des Unternehmens würden bei DeTeWe verfaßt, doch vermisse er den „roten Faden, der aufzeigt, wohin es nun eigentlich gehen soll“.

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