■ Plädoyer für eine andere Arbeitsgesellschaft
: Arbeit für alle?!

Noch vor kurzem galten diejenigen, die Arbeitslosenzahlen in mehrfacher Millionenhöhe als Dauerzustand prognostizierten, als die ewigen Pessimisten und Miesmacher. Aber seit einer Weile hat sich der Wind gedreht: Die deutsche Öffentlichkeit wird zur Zeit regelrecht darauf eingestimmt, daß sie auf absehbare Zeit quasi schicksalhaft mit einer erheblichen Arbeitslosigkeit wird leben müssen.

Als Alternative zur „Wiederherstellung der Vollbeschäftigung“ wurde in den westdeutschen Zukunftsdebatten der achtziger Jahre das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ prognostiziert und teilweise auch propagiert. Mit Wortschöpfungen wie Tätigkeitsgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Risikogesellschaft usw. wurde die Ablösung der Arbeit durch andere Medien der Identitätsbildung und Sinnstiftung der Vergesellschaftung und Individuierung der Menschen prophezeit.

Die tatsächliche Entwicklung seit der deutschen Vereinigung hat allerdings nicht nur die Protagonisten der Vollbeschäftigung, sondern auch deren Kritiker desillusioniert. Die Arbeitsgesellschaft, so scheint es, stabilisiert sich in ihrer Krise, indem gerade der Mangel an Arbeitsplätzen die Zentralität von Arbeit bestärkt und nicht etwa abbaut. Obwohl der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, bleibt sie, so scheint es, eine Arbeitsgesellschaft, in der der gesellschaftliche Ort und die Lebenschancen der Individuen für einen wachsenden Teil der Bevölkerung eben nicht mehr positiv, sondern negativ über „Arbeit“ bzw. „Nicht-Arbeit“ bestimmt werden.

In der Sackgasse falscher Alternativen

Das Gemeinsame der beiden einander entgegengesetzten Projektionen vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ und der „Wiederherstellung der Vollbeschäftigung“ ist eine formal und inhaltlich auf die Industriegesellschaft fixierte Vorstellung von Arbeit nach dem Reglement des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses. So wie die Vollbeschäftigung in der Vergangenheit nur während eines relativ kurzen Zeitraums realisiert wurde, so war auch das Normalarbeitsverhältnis in der Realität der Bundesrepublik (West) nie „normal“. Sofern dem Normalarbeitsverhältnis jemals die Qualität einer faktischen Normalität zukam, so bestand diese allenfalls in einer spezifisch männlichen Normalität, die sich nicht etwa zufällig von der spezifisch weiblichen Normalität diskontinuierlicher Berufs- und Lebensverläufe unterschied, sondern diese zur Voraussetzung hatte.

Der Arbeitsbegriff im gewerkschaftlichen Diskurs über Vollbeschäftigung und Normalarbeitsverhältnis beinhaltet nicht nur die patriarchale Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, er ist auch immer noch verhaftet in der Fiktion einer homogenen Arbeiterklasse (heute: Arbeitnehmerschaft); er ist darüber hinaus fixiert auf Industriearbeit, bezogen auf rein quantitative Kriterien von Wohlstand und Fortschritt – als Voraussetzung zu ihrer „Humanisierung“ und immer höheren Entlohnung.

Mit diesem verkürzten Arbeitsbegriff wird aber die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung nicht nur unrealistisch, weil sie die realen Tendenzen zur Deindustrialisierung moderner Gesellschaften ignoriert, sondern auch problematisch, weil sie zum einen an einem Entwicklungsmodell festhält, das aus ökologischen Gründen längst untragbar geworden ist, und zum anderen einen männlichen Lebensentwurf zur verbindlichen Einheitsnorm erhebt, der längst nicht mehr verallgemeinerbar ist.

Andererseits mangelt es aber auch der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft an einem eigenständigen Arbeitsbegriff und infolgedessen auch an einer ideologiekritischen Reflexion der spezifischen Form- und Sinngebung der Arbeit in der Industriegesellschaft. Indem sie den Arbeitsmythos nicht etwa entschleiert, sondern nur negativ akzentuiert, bleibt sie ihm verhaftet. Indem sie die „arbeitslose Gesellschaft“ zur Zielprojektion erhebt, gerät sie zur Apologie von Arbeitslosigkeit, statt Wege zu deren Bewältigung aufzuzeigen.

Nicht die Arbeits-, die Industriegesellschaft ist am Ende

Wenn die Sozialwissenschaften die modernen Gesellschaften als Arbeitsgesellschaften konstruieren, dann liegt darin ein bedeutsamer Fortschritt gegenüber gesellschaftlichen Formationen, in denen genauso, noch mehr und sehr viel mühseliger gearbeitet wurde als heutzutage, in denen die Arbeit aber eben gerade nicht die Teilhabe an „der Gesellschaft“, sondern den Ausschluß aus ihr begründete, weil „die Gesellschaft“ vor allem aus denen bestand, die es nicht nötig hatten zu arbeiten.

Allerdings: Das Konstrukt der Arbeitsgesellschaft steht in einem deutlichen Kontrast zur Realität moderner Industriegesellschaften kapitalistischer Prägung. Die Industriegesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft besonderer Art, der der Sinn der Arbeit abhanden gekommen ist, die ein gigantisches Volumen an „überschüssiger“ oder auch überflüssiger Arbeitskraft produziert und gleichzeitig außerstande ist, den Grundbedarf an menschlicher Arbeit zu befriedigen. Die „Sinnkrise der Arbeit“ betrifft so nicht nur die Inhalte der Arbeit, sondern auch deren Form. Arbeit bettet sich nicht ein in ein Gesamtkonzept vom „guten Leben“, sondern sie ist abgespalten vom „eigentlichen“ Leben und gleichzeitig dessen absolutes Zentrum. Das ganze Leben wird zur abhängigen Variablen nur eines Teilbereichs, nämlich des „Erwerbslebens“.

Entwurf des Wünschenswerten

Der Abbau von Arbeitslosigkeit im Zuge des Ausstiegs aus der Industriegesellschaft kann nur gelingen, wenn nicht nur Denk- und Handlungsgewohnheiten, sondern auch „Besitzstände“ in Frage gestellt werden, und zwar nicht nur die „Besitzstände“ einer kleinen parasitären Oberschicht. Massenhafte „Verzichtsleistungen“ lassen sich aber auf demokratischem Wege nur bewerkstelligen, wenn diese glaubhaft zugunsten einer anderen gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik mit neuen und besseren individuellen Lebenschancen abgefordert werden:

– In erster Linie verweist die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen Arbeitspotential und dem tatsächlich vorhandenen Arbeitsvolumen auf die Notwendigkeit drastischer Arbeitszeitverkürzungen, verbunden mit einer variablen Arbeitszeitgestaltung, die der Heterogenität und Dynamik der Lebensverhältnisse und der betrieblichen Bedingungen Rechnung trägt. Indem die zeitliche Struktur der Erwerbstätigkeit vielfältiger und beweglicher gestaltet wird, verbessern sich gleichzeitig die Bedingungen dafür, Tätigkeiten, die sich der industriellen Bewirtschaftung von Zeit entziehen, in das Erwerbsleben mit einzubeziehen. Indem die Arbeitszeiten generell kürzer werden, kann nicht nur das vorhandene Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt werden, dadurch gewinnen auch Konzepte zur Selbstorganisation gesellschaftlich notwendiger und sinnvoller Arbeit jenseits der Erwerbstätigkeit und außerhalb der familiären Hausarbeit eine höhere Realisierungschance.

– Der Ausstieg aus der Industriegesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung jeglicher industrieller Arbeit. Es geht lediglich darum, deren Dominanz insgesamt zu brechen und dabei gleichzeitig einen Prozeß der Rückbindung industrieller Arbeit an eine vernünftige Sinn- und Formgebung einzuleiten. Beides erfordert eine offensive und zukunftsorientierte Industriepolitik, die vor allem der Konzentration der industriellen Arbeit auf immer weniger Personen und Regionen entgegensteuern muß.

– Die Industriepolitik muß aber eingebettet sein in eine umfassende Arbeitspolitik, deren Ziel vor allem die Förderung von Initiativen zur Organisation derjenigen Arbeit ist, die sich vorrangig an qualitativen Erfordernissen orientiert und/oder die anderen Organisationsprinzipien und Steuerungsmechanismen folgt als die industriell geprägte Erwerbstätigkeit.

– Zur Überbrückung der Phase anhaltender Arbeitslosigkeit, aber auch zur Gewährleistung des kontinuierlichen Lebensunterhalts bei diskontinuierlicher Erwerbstätigkeit im Zuge variabler Arbeitszeitgestaltung und schließlich zur Stärkung der Autonomie der Individuen in der Wahl ihrer Tätigkeitsfelder bedarf es eines Grundeinkommens, das allen in allen Lebensphasen ein würdevolles Leben ermöglicht. Dabei sollte dieses Grundeinkommen so gestaltet sein, daß es besondere Anreize für die Beteiligung an denjenigen Arbeitsfeldern beinhaltet, an denen ein besonderer gesellschaftlicher Bedarf besteht.

Zukunft der Arbeit – eine neue Debatte

Diese vier Elemente eines Programms zur Bewältigung der Krise der Arbeit sind keineswegs neu, sondern waren bereits die zentralen Themen der westdeutschen Debatte um die Zukunft der Arbeit in den achtziger Jahren. Sie hatten nicht den Reifegrad praktikabler Konzepte erreicht, als die gesamte Debatte von den Turbulenzen der deutschen Vereinigung verdrängt wurde. Zwar tauchen neuerdings wieder Stichworte aus den westdeutschen Zukunftsdebatten der achtziger Jahre auf, aber ihr politischer Impetus verkürzt sich bei ihren Protagonisten auf eine reine Befriedungsstrategie und bei deren Kritikern auf die bloße Verteidigung des Status quo. Ein Ausweg aus dieser Zwickmühle falscher Alternativen liegt wahrscheinlich nur in einem Neubeginn der Debatte um die Zukunft der Arbeit, die in der Radikalität ihrer Fragestellungen revolutionär und bei der Suche nach Handlungsoptionen pragmatisch zu sein hätte. Ingrid Kurz-Scherf

Kondensat eines Aufsatzes aus dem Anfang Januar bei Knaur (Taschenbuch) erscheinenden Sammelband Perspektiven für Deutschland, hrsg. von Warnfried Dettling