Schiitische Muslime sind führungslos

Nach dem Tod von Großajatollah Reza Golpayegani suchen die Schiiten ein neues Oberhaupt / Die iranische Regierung will ihren geistlichen Führer Ali Chamenei auf den Posten hieven  ■ Von Ahmad Taheri

Berlin (taz) – Der Teheraner Herzspezialist Seifuddin Nabawi schrieb vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel „Hundert Jahre alt werden“. Als Beispiel führte der bekannte Arzt seinen prominenten Patienten, Großajatollah Sayid Muhammad Reza Golpayegani an, der dank magerer Kost und innerer Ruhe auf die magische Zahl zusteuerte. Golpayegani, das religiöse Oberhaupt der Schiiten, starb vor zwei Wochen im Alter von 96 Jahren. Bis zuletzt hatte der Geistliche seine Aufgabe als Lehrer der theologischen Schule in der iranischen Stadt Ghom wahrgenommen.

Eine Woche lang trauerte die Islamische Republik Iran um den hochangesehenen Gottesmann. Allein in Teheran gaben ihm 300.000 Gläubige das letzte Geleit, darunter auch die gesamte iranische Führung. Selbst der Mullah- Gegner Reza II., der exilierte Sohn des verstorbenen Schah, sprach der schiitischen Gemeinschaft und der iranischen Nation sein „tiefstes Beileid“ aus. Nach dem Tod von Großajatollah al-Choi vor zwei Jahren im Irak war Golpayegani der letzte anerkannte „Mardscha-e Taglid“, das „Vorbild der Nachahmung“, wie jene schiitischen Würdenträger genannt werden, denen die Gläubigen in religiösen Angelegenheiten folgen.

Golpayegani, Sohn eines Dorfmullahs aus der Nähe der westiranischen Stadt Golpayegan, war Mitbegründer des neuen theologischen Zentrums in Ghom. Er führte als erster die mündlichen und schriftlichen Examina für die Theologiestudenten ein. Ghom verdankt ihm auch ein modern eingerichtetes Krankenhaus und mehrere Schulen. Nach dem Sieg der islamischen Revolution 1979 ging Golpayegani zunächst auf Distanz zu Chomeini. Einige Maßnahmen der neuen Machthaber kritisierte er als „kommunistisch“. Doch zum Opponenten des Revolutionsführers wurde er nicht. Nach und nach paßte er sich den neuen Verhältnissen an und wurde dafür von den radikalen Islamisten in Ruhe gelassen. Doch einen gewissen Gegenpol bildete er zu den schiitischen Revolutionären. Vor allem sahen die Bazaris, die Händler, in ihm, der öfter für die Unantastbarkeit des Eigentums eingetreten war, ihren Schirmherrn.

Mit dem Tod Golpayeganis sind die Schiiten nicht nur im Iran, sondern auch in anderen Ländern, wie etwa im Irak, im Libanon oder in Pakistan, in eine religiöse Führungskrise geraten. Nach wem soll sich die Gemeinschaft von hundert Millionen Gläubigen künftig richten? Noch wichtiger: Wer soll die Chums, das Fünftel des jährlichen Einkommens der Gläubigen, erhalten.

Kaum hatte der Großaatollah das Zeitliche gesegnet, rührten die iranischen Medien die Werbetrommel für den religiösen Führer des Staates, Ali Chamenei. Wie zu Zeiten Chomeinis sollten das Amt des Mardscha und die religiöse Staatsführung in einer Person vereint sein, meinten sie.

Um dem Revolutionsführer zuvorzukommen, ließ die Gefolgschaft Golpayeganis den Ajatollah Araki das Totengebet verrichten. Nach schiitischer Gepflogenheit nominierte ihn dies zum Nachfolger. Auch die Lehrer der theologischen Hochschule Ghom beeilten sich, den 95jährigen halbblinden Araki, von dem gesagt wird, er verfüge nicht „über alle seine Sinne“, zum neuen Mardscha zu küren. Doch Ajatollah Araki, bei den Gläubigen weithin unbekannt, ist eine Notlösung. Nur wenige werden ihn als Mardscha akzeptieren. Der libanesische Schiitenführer Scheich Fadlallah hat bereits den im irakischen Nadschaf lebenden Ajatollah Sistani zum Mardscha nominiert. Die irakischen Schiiten sind gespalten. Während ein Teil Sistani favorisiert, sehen die Anhänger der „Hisb ad-Dawa“ (Partei des islamischen Rufes), der vom Iran unterstützten, einflußreichsten Organisation der Schiiten im Irak, Chamenei als religiöses Oberhaupt an. Für die Schiiten in den Golfstaaten und im indischen Subkontinent ist der künftige Mardscha Ajatollah Schirasi, der zur Zeit in Nadschaf lehrt.

Viele junge Mullahs in der islamischen Republik jedoch sehen in Großajatollah Ali Montazari den rechtmäßigen Mardscha. Der einstige „Kronprinz“ Chomeinis lebt seit Jahren in politischer Isolation, weil er einst den Imam wegen der Hinrichtungen politischer Gefangener scharf kritisiert hatte. Gleich nach dem Tod Golpayeganis wurde das Haus Montazaris in Ghom von Revolutionswächtern abgeriegelt. Der unbotsame Geistliche darf keinen Besuch empfangen. Bilder von ihm zu besitzen wird bestraft.

Angesichts des schlechten Gesundheitszustands des neuen Mardscha Araki rechnet man damit, daß bald Chamenei an der Reihe sein wird. Die Weichen dafür sind bereits gestellt. Araki soll ihn in einem Brief mit dem Titel „Ajatollah“ angesprochen haben. „Der Titel Ajatollah“, so die halbstaatliche iranische Zeitung Etelaat, „ist eine Anrede zwischen Gleichen.“ Damit habe Araki den Revolutionsführer als künftigen Mardscha anerkannt. Doch der schiitische Konsens verlangt, daß der Mardscha nicht nur der gerechteste und gottesfürchtigste aller Rechtsgelehrten ist, sondern auch der Kundigste. Dies hat er durch von ihm verfaßte Schriften zu beweisen. Ali Chamenei indessen hat bis jetzt ein nur schmales Bändchen geschrieben mit dem Titel „Die Armut im Islam“.