Gleich einer Flut, der keine Ebbe folgt

Das Thema Massenarbeitslosigkeit rangierte 1993 unangefochten an erster Stelle – voraussichtlich auch weiterhin: Auf vier Millionen, so wollen es sogar konservative Schätzungen, wird das Erwerbslosenheer bis Ende des Wahljahres 1994 anwachsen.

Fünf, sechs Millionen Arbeitslose – schon die Zahlen sind ein Horror. Schon einmal, in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, standen so viele Menschen auf der Straße. Damals suchte das krisengeschüttelte Deutschland nach einem Retter, die Nationalsozialisten übernahmen die Macht. Jetzt, 60 Jahre später, rückt die verhängnisvolle Marge von einst wieder näher.

3,558 Millionen Arbeitslose waren im November registriert – das sind rund 600.000 mehr als vor einem Jahr. Allein die 20 größten Industrieunternehmen bauten 1993 über 100.000 Arbeitsplätze ab. Zigtausende haben bereits resigniert und gehen nicht einmal mehr stempeln. Ihnen bleibt nur die Sozialhilfe – auf rund vier Millionen ist die Zahl der Empfänger bereits angestiegen.

Im nächsten Jahr droht noch Schlimmeres. Von den Schlankheitskuren regelrecht magersüchtig geworden, verabschiedet die Industrie einen weiteren Teil ihrer Belegschaft. So streicht Daimler- Benz 1994 weitere 30.000 Jobs, die Dasa macht gleich sechs Werke dicht. Bei VW werden trotz Arbeitszeitverkürzung 7.000 Stellen gekappt, bei Thyssen 20.000, die Chemieriesen Hoechst, BASF und Bayer wollen 10.000 Arbeitsplätze abbauen. Auf vier Millionen wird das Arbeitslosenheer bis Ende kommenden Jahres anwachsen, prognostiziert der Sachverständigenrat. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt sogar, daß in Deutschland gut sieben Millionen Arbeitsplätze fehlen.

Wie dramatisch die Lage am Arbeitsmarkt geworden ist, wissen die Bundesbürger am besten. Das Thema Arbeitslosigkeit rangiert unangefochten an erster Stelle auf der Problemliste. Daß sich das leidige Problem nicht länger beiseite schieben läßt, ist inzwischen auch der politischen Klasse aufgegangen, die die Arbeitslosigkeit bereits als unabänderbare Dauererscheinung akzeptieren wollte. Angetrieben von der Furcht, im Superwahljahr 1994 von der Bühne gefegt zu werden, überbieten sich Regierung und Opposition mit Vorschlägen gegen die Jobmisere. Schnell werden altbekannte arbeitsmarktpolitische Instrumente neu verpackt und als Ausweg aus der Krise angepriesen. Erwerbsarbeit um jeden Preis, lautet die Devise. Doch ob Billiglöhne, Deregulierung und zweiter Arbeitsmarkt – die Sklerose läßt sich damit höchstens lindern, nicht aber beseitigen.

Die Signale sind falsch gestellt. Selbst die Debatte um eine Umverteilung der vorhandenen Arbeit erfolgt stets in der Logik der auf Massenkonsum ausgerichteten fordistischen Industriegesellschaft. Der heilige Dreisatz der Ökonomen, der noch immer zum wirtschaftspolitischen Credo der liberalkonservativen Regierung wie der Sozialdemokraten zählt, wonach höhere Unternehmensgewinne Anreiz für mehr Investitionen sind, die dann wiederum für mehr Beschäftigung sorgen, hat jedoch bei weitem nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Selbst eine neue Hochkonjunktur kann den Arbeitsmarkt nicht nennenswert entlasten. Im Gegenteil: Gleich einer Flut, der keine Ebbe folgt, wächst die Arbeitslosenrate mit jedem Konjunkturzyklus. Nach jeder Rezession seit 1973, haben Arbeitsmarktforscher festgestellt, erhöhte sich die Sockelarbeitslosigkeit in Westdeutschland um eine Dreiviertelmillion. Steht angesichts des „jobless growth“, bei dem Wachstum und Produktivitätssteigerung mit einer Verringerung des Arbeitsvolumens einhergeht, nicht die Arbeitsgesellschaft vor dem Offenbarungseid, fragen sich die Experten.

In den Stunden seines größten Triumphs muß sich der Spätkapitalismus wieder mit seinen Kinderkrankheiten auseinandersetzen – mit Massenarbeitslosigkeit, Verelendung und wirtschaftlichem Zerfall. Jahrzehntelang hatte die sporadische Pflege der Illusion genügt, die Industriegesellschaft Bundesrepublik sei derart gut, so stark und dermaßen erfinderisch, daß sie Rezessionen und Strukturkrisen leicht wegstecken könne. Jetzt ist die Überheblichkeit in helle Panik umgeschlagen. Derweil stößt die Industriegesellschaft immer mehr an ihre Grenzen: Daß die Menge der in einer Volkswirtschaft produzierten Güter nicht endlos wachsen kann, nur damit alle Arbeit haben, hat der Club of Rome bereits vor 20 Jahren erkannt. Obwohl der Widerspruch zwischen Überfluß der Güterproduktion und der Nachfrage nach Beschäftigung unlösbar geworden ist, bleiben Fortschrittsglaube und Ressourcenausbeutung ungebrochen. Sie werden heute durch das Schlüsselwort „Standort Deutschland“ im ökonomischen Weltbürgerkrieg ergänzt. Wie wichtig dieser auch im globalen Wettbewerb sein mag, er verschärft die Sinnkrise, weil die sozialen Verhältnisse am Standort selbst zunehmend ausgeklammert werden.

Mittlerweile macht bereits die Rede von der „Vierviertel-Gesellschaft“ die Runde. Das erste Viertel, im Besitz gutbezahlter Dauerarbeitsplätze, kämpft um seine Privilegien, das zweite Viertel, mit befristeten Verträgen oder ABM- Maßnahmen beschäftigt, will in den ersten Stand versetzt werden. Das dritte und vierte Viertel, entweder nur mit gelegentlichen Verdienstmöglichkeiten ausgestattet oder mehr oder weniger ständig mit Erwerbslosigkeit konfrontiert, versinkt dagegen in Armut und Perspektivlosigkeit. Der Grundkonsens von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft steht auf dem Spiel: Die Solidarität der Erfolgreichen mit den Schwachen, das Fundament der bundesrepublikanischen Stabilität. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit auch gegen die Logik des Marktes zu verwirklichen – das ist die eigentliche Aufgabe, vor der die postindustrielle Gesellschaft steht.

Die Chancen für einen Umbau sind da

Vor mehr als zehn Jahren erschienen Andre Gorz' Thesen zur Neuverteilung der Arbeit – leider folgenlos. Nicht nur, daß eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit den Raum für freie Tätigkeiten erweitert, sie eröffnet mit den neu gewonnenen Autonomiespielräumen für Gorz zudem „eine ziemlich uneingeschränkte Entfaltung der individuellen Existenz“. Auch für den Philosophen Jürgen Habermas ist schon lange ausgemacht, daß gerade die Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopien einen Hauptgrund für die politisch-kulturelle Orientierungslosigkeit darstellt. Erwerbsarbeit wie industriegesellschaftliche Rationalisierung sind als das gesellschaftliche Emanzipationsmodell in die Krise geraten. Und Oskar Negt hat mitten in der Debatte um die 35-Stunden-Woche aufgezeigt, daß das Reservoir neuer Impulse bei der Befreiung der Arbeit und Befreiung von der Arbeit noch lange nicht erschöpft ist. Warum also nicht unkonventionelle Wege gehen? Die Suche nach der verlorenen Arbeit bietet die Chance, das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Eigenarbeit, zwischen enteigneter Zeit und freier Zeit neu zu thematisieren.

In seiner Regierungserklärung vor zehn Jahren fand Helmut Kohl deutliche Worte: „Aufgabe Nummer eins ist die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit. Hier geht es für uns nicht nur um ein wirtschaftliches Problem, sondern vor allem um ein Gebot der Mitmenschlichkeit.“ Was nun, Herr Kanzler? Erwin Single

„Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ Hannah Arendt

„The Human Condition“, 1958