Algerien zwischen Bangen und Hoffen

Skeptische Reaktionen auf die Veröffentlichung eines Übergangsplans des Regimes / Verhandlungen mit der Islamischen Heilsfront gehen weiter / Regime und FIS stehen intern unter Druck  ■ Von Khalil Abied

Skeptisch und abwartend reagieren weite Teile der algerischen Bevölkerung auf die jüngsten Vorschläge des Regimes zur Überwindung der politischen Krise im Lande. Der Übergangsplan, den die Regierungskommission für einen Nationalen Dialog am vergangenen Wochenende vorlegte, gab im Land wenig Anlaß zur Hoffnung auf ein Ende des schleichenden Bürgerkrieges. Im Gegenteil: Zunächst einmal vergrößerte sich die Angst vor neuen Anschlägen und einer Zuspitzung der blutigen Konfrontation zwischen radikalen Islamisten und den Sicherheitskräften. Denn bislang folgte noch auf jeden neuen Plan eines Dialogs eine neue Welle von Gewalttaten.

Wie um solche Befürchtungen zu bestätigen, fiel gestern ein algerisch-belgisches Paar einem Anschlag zum Opfer. Näheres wurde nicht mitgeteilt. Am Vortag war der Agrarökonom und Schriftsteller Youssef Sebti ermordet aufgefunden worden. Gleichzeitig töteten Polizisten bei Razzien einen militanten Islamisten. 78 Personen wurden festgenommen.

Der Übergangsplan der Regierung, der die Bildung einer dreiköpfigen Staatspräsidentschaft und eines Nationalen Übergangsrates unter Einschluß von Oppositionellen vorsieht, wird von Beobachtern eher als eine Warnung des Militärs denn als ein wirkliches Kompromißangebot an die Adresse der Opposition gewertet. Die Botschaft des Militärs ist klar: Falls der Plan nicht angenommen werden sollte, ist mit Konsequenzen – sprich: einer völligen Machtübernahme der Armee – zu rechnen.

Die Dialog-Kommission genießt dabei die Unterstützung des Militärs; drei der acht Mitglieder sind hohe Offiziere. Zu ihnen gehört Mohammed Towati, der Berater des ehemaligen Verteidigungsministers Khaled Nizar, dem starken Mann Algeriens und dem eigentlichen Drahtzieher des heutigen Regimes.

Ohne Konsultation der Oppositionsparteien hat die Dialog-Kommission bereits den 25. Januar als Termin für eine zweitägige Sitzung einer sogenannten Nationalkonferenz anberaumt. Die Delegierten – Vertreter aller Parteien, die Gewaltverzicht üben und zum bedingungslosen Dialog bereit sind – sollen den Plan der Kommission für eine dreijährige Übergangsperiode diskutieren und billigen. Außerdem müssen sie die Mitglieder der Staatspräsidentschaft bestimmen. Der 180köpfige Übergangsrat soll während dieser Periode die Durchführung von Vereinbarungen, die zwischen den Parteien und dem Regime getroffen wurden, überwachen.

Nach Angaben von algerischen und anderen arabischen Beobachtern ist die Veröffentlichung des Übergangsplans ein Zeichen dafür, daß bei dem geheimen Dialog zwischen dem Regime und der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) Fortschritte erzielt worden sind. Damit ist es wahrscheinlich, daß auch FIS-Mitglieder an der Nationalkonferenz teilnehmen werden. Die ehemalige Befreiungsbewegung und spätere Einheitspartei FLN und die Front der sozialistischen Kräfte (FFS) haben bereits erklärt, daß sie sich nicht an irgendwelchen Konferenzen beteiligen werden, solange die Heilsfront vom Dialog ausgeschlossen bleibt.

Auf der Seite des Regimes und der militärischen Institutionen scheint es, daß sich der Flügel um Nizar und Präsident Ali Khafi, die neuerdings für einen Dialog mit der FIS eintreten, gegenüber der Gegenfraktion, die die Islamisten militärisch besiegen will, durchgesetzt hat. Im Januar 1992 hatte ein sich abzeichnender Wahlsieg der FIS zu einem Putsch und in der Folge zum Verbot der Organisation und zu Anschlägen und bewaffneten Konfrontationen zwischen Islamisten und Regime geführt, in deren Verlauf etwa 3.000 Menschen getötet wurden.

Mittlerweile hat die FIS ihre Bereitschaft signalisiert, die Verhandlungen mit dem Regime fortzusetzen und Kompromisse einzugehen. Ali Belhadsch, der inhaftierte FIS-Führer, der zu den „Falken“ der Bewegung gehört, schickte Anfang Dezember einen Brief an die Dialog-Kommission, in dem er die Bedingungen für eine Beteiligung an den Gesprächen nannte. Der Europa-Sprecher der FIS, Rabeh Kebir, hatte Mitte Dezember in Bonn auf einer Pressekonferenz diese Forderungen umrissen: die Freilassung der FIS-Führer und aller politischer Gefangener, die Abschaffung der Ausnahmegesetze, die nach dem Putsch erlassen worden waren, die Festsetzung eines Wahltermins sowie die Bildung eines unabhängigen Komitees von einflußreichen politischen Kräften, religiösen Persönlichkeiten und Intellektuellen, das das Land während der Übergangsphase regieren soll. Verzichtet hat die FIS auf ihre Forderung, die Ergebnisse der abgebrochenen Wahlen vom Dezember 1991 anzuerkennen. Diese Konzession wird die Verhandlungen zwischen der Heilsfront und dem Regime erleichtern.

Doch die Differenzen sind noch groß, vor allem, was die Zukunft der FIS anbelangt. Ihre Führer fordern die Legalisierung der Bewegung, doch dies wird vom Regime bislang abgelehnt. Statt dessen, so der Vorschlag, sollen die FIS-Führer eine neue Bewegung unter einem anderen Namen gründen. Wie es in Kreisen, die der FIS nahestehen, heißt, hat das Regime auch angeboten, daß sich einige Führer der Heilsfront als „Individuen“ an der Nationalkonferenz und dem Übergangsrat beteiligen. Vizepräsident des Rates, einer Art Interimsparlament, könne dann ein gemäßigter, unabhängiger Islamist werden. Ungeachtet dieser Differenzen wird in Algerien jedoch damit gerechnet, daß die inhaftierten FIS-Führer demnächst freigelassen werden.

Beide Verhandlungspartner stehen allerdings intern unter Druck. Die „politische Mafia“, wie die Mitarbeiter des ehemaligen Präsidenten Chadli ben Jedid genannt werden, hat starke Bedenken gegen jede Art von Dialog. Diese Vertreter der ehemaligen Einheitspartei FLN genießen noch einen starken Rückhalt im Staatsapparat und im Militär. Sie fürchten, daß jedwedes Abkommen zwischen dem Regime und der FIS auf ihre Kosten gehen wird.

In den Reihen der radikalen Islamisten hat bereits eine Gruppe der FIS die Gefolgschaft aufgekündigt. Die meisten sind Algerier, die auf seiten der Mudschaheddin in Afghanistan gekämpft haben und deshalb kurz „Afghanen“ genannt werden. Schon seit mehreren Monaten sind sie unter dem Namen Gamaat Islamiyeh Musalaha, „bewaffnete islamische Gruppen“, tätig.

Sie haben sich zur Ermordung mehrerer algerischer Politiker und zu den jüngsten Anschlägen auf im Lande lebende Ausländer bekannt. Die Gruppe hat die FIS scharf kritisiert; ihre Mitglieder wurden als „unwissende Leute, die nichts vom Islam und der Politik verstehen“, bezeichnet. Die Gamaat lehnt einen Dialog mit dem Regime ab und betont, daß sie den militärischen Kampf gegen die „Ungläubigen“ fortsetzen wird.

Die Führung der FIS befürchtet nun, daß die Gamaat ihr unter den eigenen Anhängern das Wasser abgräbt, vor allem unter den arbeitslosen jungen Algeriern. Vor diesem Hintergrund ist auch die am Dienstag in Paris veröffentlichte Erklärung der Heilsfront zu sehen, in der sie ihre Anhänger zur Fortsetzung des bewaffneten Kampfes aufrief. Für die Verhandlungen zwischen der FIS und dem Regime dürfte dies keine Konsequenzen haben.

Angesichts dieser Konstellation spricht man in Algerien von einer De-facto-Zusammenarbeit zwischen der „politischen Mafia“ und Gruppen wie der Gamaat, um einen Dialog – beziehungsweise eine politische Lösung der Krise – zu verhindern.