Aus Sorgen Freuden

Über den neuen Mut zur Erziehung und die andauernden Siege des Pessimismus  ■ Von Michael Rutschky

Auch der Schriftsteller Do. studiert in den Zeitungen am liebsten die vermischten Nachrichten. Sie bieten stets mehr als Information. Sie scheinen von einem tieferen Sinn erfüllt, Allegorien dessen, was in der Welt, der Nation, der Gesellschaft wirklich vorgeht, wenn man sie richtig auszudeuten versteht. Wer seine Zeit in Gedanken fassen will, liest die vermischten Nachrichten.

Kürzlich hat dem Schriftsteller Do. die folgende zum sorgenvollen Meditieren Anlaß gegeben. „Die Kama- und Wolga-Zeitung berichtet, daß in diesen Tagen drei Gymnasiasten des 2. Gymnasiums in Kasan, Quintaner, zur Verantwortung gezogen worden sind wegen eines Vergehens, das mit ihrer geplanten Flucht nach Amerika in Verbindung stand...“

Der Schriftsteller Do. heißt natürlich mit vollem Namen Fjodor Michailowitsch Dostojewski, und die Abschrift der Nachricht aus der Kama- und Wolga-Zeitung nebst Allegorese findet sich in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“, einer Art Kolumne, die er ab 1873 zu der reaktionären Zeitung Der Staatsbürger beisteuerte und später als eigenes Periodikum herausgab.

Zu welchen Sorgen inspirieren den Reaktionär Dostojewski – er beginnt als Liberaler mit sozialistischen Neigungen und muß im reaktionären Zarenreich furchtbar dafür büßen – die Sechstkläßler im tatarischen Kasan mit ihrem gemeinsamen Tagtraum vom Auswandern nach Amerika? Rußland verliert – „zunehmend“ ist inzwischen bei uns das beliebteste Wort, die Schärfe der Besorgnis auszuzeichnen – seine Jugend. Die nationalen Bindungskräfte lassen auf beunruhigende Weise nach. Statt sich dem Wiederaufbau des eigenen Landes zu widmen, will der Gymnasiast nach Amerika in ein persönlich erfolgreiches Leben entkommen.

Auf die mystischen Kräfte Rußlands hatte der reaktionäre Dostojewski all seine utopischen Erwartungen gerichtet. Wenn aber jetzt schon die Quintaner...! Es folgt in dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ Polemik gegen „die Liberalen“, die, so der Schriftsteller Do., stets zum Abwiegeln neigen, wenn die Irrtümer und Vergehen der Jugend auf der Tagesordnung stehen (in die vermischten Nachrichten gedrungen sind). Schon die russischen Liberalen der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts neigten also zu der Überzeugung „the kids are allright“, was der Reaktionär, der Konservative unmöglich unterschreiben konnte. Er predigte den Mut zur Erziehung – wie hundert Jahre später Hermann Lübbe und seinesgleichen, die Neokonservativen der BRD, als die RAF den Inbegriff der verdorbenen Elitejugend ausmachte.

Auf das Dostojewski-Beispiel bin ich gestoßen, weil ich seit einiger Zeit die große russische Literatur lese. Ich mache mir nämlich Sorgen wegen Rußland, „was da auf uns zukommt“, und bilde mir ein, das Lesen der Meister könne mich irgendwie präparieren.

Der Tag nach der Parlamentswahl war natürlich ein schöner Tag für mich. Denn meine Sorgen erwiesen sich als nur allzu berechtigt: Herr Schirinowski gewinnt überraschend die Mehrheit – in inniger Eintracht mit ihm zeigt sich unser widerwärtiger Herr Frey, dessen National-Zeitung, damals hieß sie Soldaten-Zeitung, schon Theodor W. Adorno zu verbieten geraten hatte, weil der autoritäre Charakter nichts außer der geballten Staatsmacht respektiere; intelligente Diskussion hält er für das Gequatsche von Schwächlingen.

Unter uns, nicht wahr, würden wir leicht Einverständnis erzielen, daß Dostojewskis Sorgen wegen der rußlandmüden Quintaner eingebildet waren, während zu unseren Sorgen wegen Herrn Freys, inbesondere aber seiner Anhänger unter unseren Quintanern, aller Anlaß besteht. Die Debatten und Aktivitäten, betreffend einen neuen Mut zur Erziehung, der sich diesmal den Rechtsradikalen zu stellen hätte, sind jeden Tag gerade in dieser Zeitung zu verfolgen.

Deshalb darf ich eine kleine Pause machen. Währenddessen wollen wir genauer beobachten, wie die Besorgnis operiert, wie die Pessimisten ihre andauernden Siege erringen. Dostojewski sind seine tatarischen Sechstkläßler, Hermann Lübbe war die RAF, mir sind Herr Schirinowski, Herr Frey und ihr Anhang nicht einfach, was sie sind – verträumte Jünglinge, politische Attentäter, nationalistische Demagogen. Sie sind irgendwie mehr – sie sind, was den Pessimisten mit halluzinatorischer Klarheit aufgeht, Die Zukunft. Dann werden alle russischen Gymnasiasten die Heimat verlassen; dann wird die RAF das politische und intellektuelle Establishment der BRD stellen; dann wird Herr Frey Bundespräsident (und hat dem nicht der Bundeskanzler Kohl mit seiner Nominierung des Deutschnationalen Heitmann vorgearbeitet?). Dann wird Herr Schirinowski zum russischen Präsidenten gewählt, und dann wird er das in die Wege leiten, was uns so lange als Inbegriff der Apokalypse entsetzt hat, den Atomkrieg zwischen Ost und West, aus schierer nationalistischer Konfusion.

Der Pessimist weiß, daß dies die Zukunft ist, seine Schreckensmeldungen sagen es ihm unmißverständlich. Der französische Literaturtheoretiker Jean Paulhan (dessen „Unterhaltungen über vermischte Nachrichten“ mal wieder aufgelegt werden dürften) hat eine triftige Formel gefunden für die halluzinatorische Klarheit, mit der die Sorge die schwarze Zukunft ausmalt, „Illusion der Totalität“. Dostojewski meint aufgrund einer Zeitungsmeldung über drei tatarische Knaben alles über die Jugend Rußlands und seine Zukunft zu wissen; ebenso verfuhr Herr Lübbe mit der RAF, und ich mit Schirinowski.

Weil der Pessimismus jede Schreckensmeldung als Illusion der Totalität liest und alles schon weiß von der Zukunft, nämlich das Schwärzeste, kommt man seiner allumfassenden Sorge so schlecht durch Realitätsprüfung bei.

Unsere Gymnasiasten, nicht wahr, träumen statt vom Auswandern nach Amerika zunehmend von sinnloser Gewalt. Es wird sich gründlich in Ihr Gedächtnis eingegraben haben, daß neulich zweie – so stand es in den vermischten Nachrichten – einen Dritten am Kartenständer erhängen wollten. Daß sich der Fall bei näherem Zusehen in nichts auflöste, wird Ihr Gedächtnis schon weniger verläßlich verzeichnen; denn Sie sind, Illusion der Totalität, einfach vollkommen sicher, daß es zwischen Schülern zunehmend gewalttätig zugehe.

Auch wenn wir es leider noch nicht zu dem englischen Fall gebracht haben, daß zwei Kids ein kleineres gräßlich schlachten. – Zunehmend, nicht wahr, kommt es auch zwischen den Geschlechtern zu Gewalttaten, sexueller Gewalt von Männern gegen Frauen – daß die Kriminalstatistik das Gegenteil lehrt, bleibt gegen die Illusion der Totalität, in der Sie sich wiegen, ohnmächtig.

So muß der Pessimismus, der von der Zukunft, die gerade durch Ungewißheit definiert wird, alles schon weiß, einer tiefen Wunschbefriedigung entspringen. „Where everything is bad / it must be good / to know the worst“, lautet ein Motto in Adornos „Minima Moralia“, und dies ist die erste der halluzinatorischen Wunschbefriedigungen, welche die umfassende Sorge verschafft: Alles unter Kontrolle. In diesem Sinne beglückte mich, daß Herr Schirinowski die Wahl in Rußland gewann.

Wer in einer Gesellschaft die allgemeine Aufmerksamkeit erregen will, schreibt der Soziologe Georg Simmel ichweißnichtwo, muß was Pessimistisches äußern, und dies ist die zweite, die stärkste Wunschbefriedigung, die der Pessimismus verschafft. Die integrale Sorge bringt im Diskurs die Freuden der Macht ein; irgendeiner Abart des zweiten thermodynamischen Gesetzes folgend, dem die frigide Ehefrau Sidney Pollacks in Woody Allens „Husbands and Wives“ die Vulgärfassung gab: „Im Lauf der Zeit wird alles Scheiße.“ Wie wollte man ihr widerspre

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chen? Der Pessimismus, der immer schon weiß, Illusion der Totalität, wie alles schlecht ausgeht, eröffnet ein eigentümliches Spiel der Überbietung, des Übertrumpfens. Was mir Sorgen macht, sind gar nicht die Gymnasiasten. Es sind die Kids aus den lower classes: Sie stellen doch vor allem die Brandstifter, Neonazis, Jungarbeitslosen – was geschieht, wenn eine Neo-SA diese Kräfte sammelt? Und wenn sie sich mit der desorientierten Jugend Rußlands verbünden? Wer will ihnen noch entgegentreten? Hat doch der Rechtsruck in der deutschen Intelligentsia uns längst aller guten Argumente beraubt. Haben wir doch zunehmend den deutschistischen Rattenfängern nachgegeben, Botho Strauß und Konsorten, von Zitelmann, ja Zitelmann, ganz zu schweigen...

Und dann der Fundamentalismus. Ich meine nicht bloß den islamischen, der von Algerien bis Jericho den Weltbrand entzündet. Denken Sie an Amerika, das Zentrum der westlichen Macht. Kaum haben sie Reagan und seine Ayatollahs überstanden, verfallen sie der Political Correctness, der Feminismus immer vorneweg, der zunehmend sein wahres Gesicht enthüllt, die Fratze des Rassismus...

Was mir aber die schärfsten Sorgen macht, ist dieser zunehmende Pessimismus. Unsere Intelligentsia ist davon durchdrungen; die Medien wetteifern in Schreckensmeldungen, andere scheinen überhaupt wertlos. Wie sollen wir da Kräfte sammeln für die außerordentlichen Konstruktionsleistungen, von denen doch alle wissen, daß sie anstehen? Der Pessimismus der Eliten – da hatte Dostojewski ganz recht – ist es, der das substantielle Krisensymptom darstellt. Gerade das 20. Jahrhundert kann uns darüber belehren. Schon die Kriegsbegeisterung 1914 speiste sich daraus, daß jetzt endlich der dekadente P. überwunden sei zugunsten einer neuen nationalen Positivität. Die Überwindung des Pessimismus haben dann Faschismus ebenso wie Stalinismus den Pessimisten verheißen, und nicht die Dummkader sind es gewesen, die ihm glaubten...

Und dann haben wir bislang über die Krise des Industriesystems geschwiegen, wie es zunehmend den Planeten ruiniert...

Wie gesagt, dies ist ein Spiel. Den Joker, die Schreckensmeldung mit der höheren allegorischen Kraft, bietet stets die weitergehende Besorgnis. Die Überbietung ins Schwarze muß den Spielenden eine tiefe Sicherheit schenken – es geht ja doch bloß um Zeitungs- und Fernsehnachrichten, und hier, wo wir unseren Frühstückskaffee oder den Abendwein trinken, ist alles in bester Ordnung. Sonst wäre das Spiel unmöglich; wie jeder weiß, der wirklich einmal in Lebensgefahr sich befand.

„Aber irgendetwas muß es doch geben, Herr Rutschky, das auch Ihnen, über das Spiel hinaus, Sorgen macht.“

Ja. Daß Helmut Kohl, den wir Kinder des Saturn wegen seines rosigen Optimismus seit Urzeiten hänseln, auch die nächste Bundestagswahl gewinnt.