Das Gewicht der Welt, ganz leicht

Muffins als Madeleines. Robert Altman kidnappt das Personal aus den Geschichten von Raymond Carver und macht aus dessen lakonischen Short stories ein Epos über das kleinbürgerliche Leben und Sterben in den Vorstädten von L.A.  ■ Von Jörg Lau

Im letzten Jahr befanden die Juroren der Mostra in Venedig, daß der längste Film auch der beste sei und kürten Robert Altmans „Short Cuts“ mit dem Goldenen Löwen. Einige scheinbar über ihre eigene Geduld erstaunte Kritiker ließen verlauten, der Film sei mit stolzen 189 Minuten eher noch zu kurz als zu lang geraten. „Short Cuts“ ist in der Tat ein wunderbarer Film. Ein Film, an dem so viel zu loben ist, daß er es verträgt, wenn man sich zunächst ein bißchen bei den Schwächen aufhält; bei jenen Episoden, die dir später auf der Straße, während du die vielen Geschichten, die das Epos verwebt, von neuem durchschmeckst, im Halse stecken bleiben.

Die Sache mit Lois Kaiser zum Beispiel: Telefonsex ist sicher eine ziemlich schmierige Angelegenheit. Einfach nicht die Art von Gesprächen, die wir unsere FreundInnen gerne führen hören, wenn wir nicht zufällig selber deren Adressat sind. Telefonsex beziehungsweise die Nachfrage danach ist aber auch ein ziemlich interessantes Problem für Menschen, die sich berufsmäßig mit der Macht der Einbildungskraft beschäftigen. Sollte man jedenfalls annehmen: Robert Altman interessiert sich für diese Seite überhaupt nicht. Er läßt uns statt dessen immer wieder zuhören und zusehen, wie Lois Kaiser (Jennifer Jason Leigh) simultan ihr Baby mit Windeln und Fläschchen und ihre Kunden mit fernmündlichen Erektionen versorgt. Ihr Mann Jerry (Chris Penn, musterhaft dicklich, jungenhaft, hilflos), den die Sache anwidert, muß derweil Verzicht üben, was, man ahnt es schon (Dampfkesselchen!), nicht gut ausgehen kann. Telefonsex interessiert Altman nur als Metapher. Die platte Kulturkritik dieser Episode würde unerträglich, wäre nicht Jennifer Jason Leighs Schauspielkunst, durch die Lois Kaiser ein Platz im Olymp der großen Schlampen der Filmgeschichte sicher sein sollte: Manchmal blitzt da, ganz gegen Altmans Moralismus, eine herrliche Verkommenheit auf. Eine einzige solche dirty word-Szene hätte aber wirklich gereicht.

In einer anderen Episode kommt ein Kind vor, das von einer Mutter mit unübersichtlichem Liebesleben (Frances McDormand als Betty Weathers) ziemlich herumgeschubst wird. Comicfiguren ersetzen dem schmächtigen Jungen (Jarrett Lennon) die Freunde, er flieht in eine künstliche Wirklichkeit. Das wäre noch achselzuckend hinzunehmen, wenn Mr. Altman nicht gelegentlich die Auffassungsgabe seines Publikums so drastisch unterschätzen würde. Für alle, die rein gar nichts von dem Drama des vernachlässigten Kindes mitbekommen haben, hat er sich eine Szene einfallen lassen, in der Chad und seine Mutter von einem Trip mit einem ihrer Liebhaber zurückkehren. Der eifersüchtige Vater hat das Haus gründlich mittels einer Motorsäge verwüstet. Alles liegt in Klump. Nur der Fernseher läuft noch. Eine Cartoon-Serie. Der kleine Chad setzt sich gebannt zwischen die Trümmer und schaut zu. Fernsehsüchtig! Mr. Postman, übernehmen Sie.

Mit „Short Cuts“ ist Robert Altman zu jenem Prinzip zurückgekehrt, das sich schon bei „Nashville“ (1975), seiner ersten Annäherung an die Drei-Stunden- Marke, bewährt hat: schwere Selbstüberforderung. Es ist die Gigantomanie dieses Projekts, aus der sich seine beglückendsten Momente ergeben. Immer wieder entstehen in dem komplexen Gewirr der Erzählung Freiräume, in denen Altman uns nichts beweisen will und auch nicht unseren vorgefaßten Meinungen über den deplorablen Zustand der Welt schmeichelt. Altman erzählt uns gleichzeitig zehn Geschichten, deren Fäden häufig auch noch verknotet werden. Sein Material fand er in den Kurzgeschichten von Raymond Carver. Was er daraus gemacht hat, läßt sich glücklicherweise nur mühsam als Literaturverfilmung rubrizieren. Vielleicht sollte man es eine Form von virtuellem Kidnapping nennen. Raymond Carvers Figuren wirken im Universum seiner minimalistischen Geschichten oft wie eingesperrt. Seine Welt ist atmosphärisch mit der Bilderwelt verwandt, in die Edward Hopper seine melancholischen Charaktere eingefroren hat, Gefangene in ihren Zimmern, Häusern, Landschaften. Altman, offenbar ein leidenschaftlicher Leser, muß sich gedacht haben, daß es interessant wäre, ein paar von diesen solitär vor sich hin lebenden Carver-Leuten miteinander bekannt zu machen. Ein ziemlich riskantes Unternehmen, wie jeder weiß, der schon einmal auf einer jener Parties war, wo ein sendungsbewußter Gastgeber Leute aus verschiedenen Milieus zusammenbringt. Aber Robert Altman hat da natürlich ganz andere Möglichkeiten; frech entführt er die Carver-Leute aus ihren kleinen Welten im pazifischen Nordwesten der USA und verpflanzt sie in ein Paralleluniversum, das auf den Namen Los Angeles hört.

Wer so vorgeht, halst sich als Erzähler einen enormen Rechtfertigungsdruck auf. Dabei geht es nicht um die naive Frage, ob solches Figurenkidnapping nebst Verpflanzung ein legitimes künstlerisches Mittel ist. (Natürlich ist es das – ohne dieses Verfahren gäbe es weder „Faust“ noch „Ulysses“.) Es geht um etwas anderes – die Autorität des Erzählers. Raymond Carver hat sich ja nicht aus schriftstellerischer Kurzatmigkeit auf die Form der Short story beschränkt. Seine Geschichten sind keine Skizzen für ein Epos, das aus künstlerischer Impotenz ungeschrieben blieb. Wenn man nun doch eins daraus macht, wie Robert Altman in seinem neuen Film, muß man sich schon einiges einfallen lassen. Es ist eine Sache, dreißig Personen zusammenzulesen. Hat man sie beisammen, suchen diese dreißig verwaisten Personen aber einen Autor.

Wie verschafft Altman sich die erzählerische Autorität über dieses Personal? Zunächst verwandelt er die meisten, gibt ihnen andere Namen, andere Berufe. Auch andere Körper: Den Bäcker, eine der wichtigsten Nebenrollen, bei Carver „ein älterer Mann mit dickem Nacken“, besetzt Altman mit dem Countrysänger Lyle Lovett, bekanntermaßen ein Prachtexemplar von einem Leptosomen. So macht er es mit den meisten. Carver geteilt durch Altman, das ergibt eine recht bunte Liste: Nachrichtenmoderator Howard Finnigan (Bruce Davison) und seine Frau Ann (Andie MacDowell); sie bangen um das Leben ihres Kindes, das auf dem Schulweg angefahren wurde. Der Chirurg Dr. Wyman (Matthew Modine) und seine Frau Marian (Julianne Moore); Wyman behandelt den kleinen Finnigan, seine Frau übt sich als Künstlerin – talentiert, aber erfolglos. Sie führen ihre Ehe als eine Art Schnoddrigkeits-Wettbewerb, dem erst ein Gespräch mit unverhofften Geständnissen ein Ende bereitet. Claire Kane (Anne Archer), die sich und ihren arbeitslosen Mann Stuart (Fred Ward) mit Clownauftritten bei Kindergeburtstagen über die Runden bringt. Sie wird mit einigem Entsetzen bemerken müssen, daß Stuart in entscheidenden Situationen von großer Trägheit des Herzens ist. Familie Kaiser, deren Einkünfte sich aus Lois' bereits erwähntem Telefonsex und dem Schwimmbadservice ihres Mannes zusammensetzen. Honey Bush (Lili Taylor) und Bill Bush (Robert Downey Jr.), eine zarte, scheue Hippiefrau und ein auf Zombies spezialisierter Maskenbildner. Gene Shepard, Motorradbulle, und seine Frau Sherri (Madeleine Stowe), Schwester von Marian Wyman und – ohne Wissen ihres Mannes – deren Aktmodell. Gene, der seine Frau betrügt und seine Kinder nebst deren Lieblingshund Suzy quält, wird verschiedene heilsame Demütigungen erleiden, die man diesem reaktionären, bigotten Bigamisten ausnahmslos vergönnt. Tim Robbins, an dessen schauspielerischer Leistung schon „The Player“, Altmans Comeback-Erfolg von 1992, zu großen Teilen hing, schafft hier das Kunststück, den verlogenen Cop mit einer stets spürbaren, manchmal fast chargenhaften Distanz zu spielen, ohne ihn je ganz der Lächerlichkeit preiszugeben. Doreen Piggot (Lily Tomlin), Kellnerin in einem Diner, verheiratet mit dem Chauffeur Earl Piggot (Tom Waits), wohnt in einem jener Trailer Parks, in denen Amerikas Halbseßhafte recht (klein-)bürgerlich leben. In das marginalisierte Ambiente drängen mit Macht jene Fragen, die sonst eher zum inneren Meublement der Mittelklasse zählen: Wenn auch alles anders sein könnte, warum passiert dann nichts? Und wenn doch etwas passiert, warum ändert sich am Ende nichts? Es sei verraten, daß es in Doreen und Earls Geschichte eine überraschende Antwort auf diese Fragen gibt; sie läßt sich hier allerdings nicht wiedergeben: Sie wird getanzt.

So weit die wichtigsten von Altman bei Carver gefundenen und runderneuerten Figuren; drei andere sind noch zu erwähnen. Da sind zunächst Tess und Zoe Trainer (Annie Ross und Lori Singer), eine Jazzsängerin und ihre Tochter, eine anämische Cellistin, die stumm nebeneinander herleben. Sie sind Erfindungen Altmans, die aus dem Reigen der übrigen Figuren zwar nicht herausfallen, ihr Leben jedoch mehr den dramaturgischen Zwängen der Komposition zu verdanken scheinen als Altmans purer Erfindungslust. Ihre Musik verbindet einige der Erzählstränge: Altman führt seine Figuren im Jazzclub „Low Note“ und beim Konzert des „Trout“-Streichquartetts zusammen. Darüber hinaus bleibt sein Interesse für die beiden Figuren ziemlich gering. Zoes Selbstmord gegen Ende steckt quer im epischen Fluß der Geschehnisse – ein sperriges Versatzstück aus dem Melodrama. Warum sie sich umbringt? Man kann nur raten. Vielleicht aus Verzweiflung darüber, daß der Regisseur sie nicht mehr braucht?

Der kleine Gastauftritt von Jack Lemmon als Paul Finnigan ist ein Glanzstück – und das will schon etwas heißen in diesem Film, in dem eine solche Anzahl hervorragender Schauspieler, wie man mit Anleihen bei der Sportberichterstattung sagen möchte, befreit aufspielt. Während das Leben seines Enkelsohns Casey nach dem Autounfall noch am seidenen Faden der Intensivmedizin hängt, taucht dieser Paul Finnigan im Krankenhaus auf; seinen Sohn Howard hat er seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen, seit jenem Tag, als er von seiner Frau, Howards Mutter, verstoßen worden war. Nun fühlt er sich endlich stark genug, seinem Sohn zu erklären, was wirklich geschah. Im Dialog zwischen Vater und Sohn Finnigan in der Krankenhauskantine überlagern sich Reue, Mitgefühl, Befremden, Wut und Resignation ungeheuer dicht. Jack Lemmon bringt es fertig, seinen scheidungsrelevanten Exkurs mit einer Frau namens Olla so lebendig zu schildern, daß die Szene einen sanften, aber unwiederstehlichen Dreh ins Komische bekommt. Wer sich nach dreißig Jahren noch an das lüsterne Zischen der Bierdosen erinnert, mit dem die Verführerin die guten Vorsätze torpedierte, der weiß, was eine richtige Sünde ist, und dem ist sicher darum schon vergeben.

Es gäbe noch einiges an diesem Film zu loben: Immer wieder gelingen Altman Szenen, in denen das Alltägliche, Ephemere und Banale plötzlich mit allem Gewicht der Welt belastet scheint – oder die schwersten, verfahrensten, verhaktesten Konstellationen sich plötzlich in Wohlgefallen auflösen. Schwer, dabei den Kitsch zu vermeiden, aber Altman gelingt das, wie Raymond Carver in seinen Geschichten, fast immer: Ein Gespräch, das als Bericht über eine grausige Entdeckung bei einem Angelwochenende anfängt, entpuppt sich bald als Offenbarungseid einer Ehe. Ein anderes Gespräch ist zuerst die übliche kontrollierte Stichelei zwischen zweien, die seit Jahren im wechselseitigen Belagerungszustand leben; dann merken sie langsam, daß sie dabei sind, sich um Kopf und Kragen zu reden, können aber trotzdem nicht aufhören. Es klingelt, man öffnet, und die sonst ungeliebten Gäste sind nun die Rettung. Der Abend endet in einem geräumigen Whirlpool, ziemlich dionysisch. Die Finnigans spüren die Person auf, die sie während der Agonie ihres Sohnes mit Anrufen terrorisiert hat. Es ist der Bäcker, bei dem sie einen Geburtstagskuchen für ihren Sohn bestellt, aber nie abgeholt haben. Sie suchen ihn auf, um ihren Haß und ihre Wut an ihm abzureagieren. Sie stellen ihn zur Rede und beschimpfen ihn, als habe er den Tod ihres Sohnes zu verantworten. Der Beschuldigte merkt schnell, daß der Schmerz, der sich über ihn entlädt, durch keine Entschuldigung zu lindern ist. Am Ende essen sie alle zusammen die Muffins, die er gerade aus dem Ofen geholt hat. Man ahnt, daß sie jetzt, in eben diesem unpassend-passenden Moment köstlich schmecken.

In der Literaturwissenschaft nennt man solche Momente, in denen die alltäglich äußere Wirklichkeit sich unverhofft mit einer Art transzendentaler Bedeutung auflädt, „Epiphanie“. Das bedeutet „Erscheinung“ und leitet sich in der christlichen Terminologie von der Erscheinung des Jesuskindes vor den Heiligen Drei Königen ab. In der Literatur der Moderne wird das Jesuskind auffällig oft durch verschiedene Sorten Teegebäck vertreten: Muffins, die plötzlich alles Leid vergessen lassen oder eine Madeleine, die eine verlorene Zeit wiederbelebt. Der Tag im Kirchenjahr, der diesem Ereignis geweiht ist, heißt übrigens Epiphanias, und das, liebe Gemeinde, ist zufällig der 6.Januar.

„Short Cuts“. Regie: Robert Altman. Mit: Andie McDowell, Jack Lemmon, Tom Waits, Tim Robbins u.a. USA 1993, 189 Minuten.