Gedächtnis des Körpers und des Raums

Warum die Tacheles-Ruine für die Berliner Tanzszene unverzichtbar ist  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Wenn die kulturelle Verödung Berlins gerade mal nicht vom eigenen Senator vorangetrieben wird, springt der Bund in die Bresche. Nur vereinzelte Exemplare exotischer Gattungen werden dauerhaft akzeptiert und als Touristenattraktion unter Denkmalschutz gestellt. Beispielsweise die Volksbühne: staatlich alimentierter Anarchismus, bekannt aus Funk und Fernsehen. Subkulturelle Initiativen, die regional von großer Bedeutung sind, wie das Tacheles, sind von der Ausrottung bedroht. Über das Gebäude, die Künstler-Ruine, wurde in allen Medien bereits ausführlich berichtet – die künstlerischen Ereignisse selbst hält man auf Bundesebene nun für verzichtbar.

Die Herren von der Oberfinanzdirektion (OFD), einer Bundesbehörde, wollten das Tacheles- Grundstück (das zum größten Teil dem Bund gehört) verschachern, das Underground-Kulturbiotop sollte in den sehr viel kleineren Pfefferberg vertrieben werden. Es scheint in Berlin mittlerweile normal zu sein, daß Taschenrechner sich als Kulturpolitiker versuchen. Abgesehen davon, daß wir die Herren Geldzähler schon immer für Experten in Sachen Subkultur gehalten haben, wäre es natürlich zu begrüßen, wenn das Tacheles als einzige Alternative in die Räume der geschätzten OFD ausweichen würde und die Anzugträger den Charme der Anarchie hautnah zu spüren bekämen.

Selbst wenn die unmittelbare Gefahr, die von der schwedischen Immobilienfirma Skanska drohte, jetzt abgewendet ist, bleibt die Zukunft des Tacheles offen. Zumindest solange nicht feststeht, daß der Kultursenator den neuen Investor, den er angeblich gefunden hat und der den Standort des Tacheles erhalten will, gegen die Interessen des Bundes durchsetzen kann. Es geht um Geld, aber es geht auch darum, die Subkultur auszuradieren, ein störendes Milieu auszutrocknen: Unser Dorf soll schöner werden. „Eine schmutzige Hauptstadt ist gefährlich für eine reinliche Regierung“, so unser Lieblingsorakel Heiner Müller.

Die Geheimnisse eines solch verquer romantischen Ortes, wie es das Tacheles seit vier Jahren ist, haben es zu einem Zentrum der Avantgarde gemacht. Die Szenen durchmischen sich: Nachwuchsalkoholiker neben Heroen des modernen Tanzes, kulturinteressierte Bildungsbürger neben militanten Hausbesetzern – Spinner und Genies Hand in Hand. Diese Reibung der Milieus und der rüde Charme der Kulturruine (zwischen Straßenstrich und Deutschem Theater gelegen) erzeugen eine Aura, in der Abseitiges und Eigenwilliges gedeiht: Nirgends in der Stadt (mit Ausnahme vielleicht in der Volksbühne) reagiert die Kunst so rüde und direkt auf das Chaos der Zeit. Nirgends sonst lassen sich solche merkwürdigen Entdeckungen machen: Das Leben kommt aus den Sümpfen.

Künste, die direkt an den menschlichen Körper gebunden sind: Theater und Tanz. Sie sind in der Aura der Simulation, die Erfahrung durch Information ersetzt und den Körper nicht mehr braucht, so anachronistisch geworden, wie es der verfallende Raum ist. Dieser Anachronismus macht die Notwendigkeit von Kunst aus: Unsere Körper leben noch. Während der Computer Informationen einfach löschen kann, vergißt der Körper nicht. Er hat Geschichte, und er ist sterblich. Der Verfall der Tacheles-Ruinen besitzt die gleiche Qualität. Sie vermitteln in ihrer Brüchigkeit Bewußtsein von Zeit. Eine Sanierungskonzeption, die das nicht reflektiert, zerstört den Kulturraum Tacheles. Die Vorstellung, man könne dieses Kunstbiotop einfach an einen anderen Ort verpflanzen, ist ignorant. Der 1907 gebaute Block besitzt eine eigene ästhetische Qualität, die kreative Potentiale freisetzt und Künstler aus der ganzen Welt anzieht. So hat beispielsweise der belgische Choreograph Wim van de Keybus (der sonst im Hebbel Theater auftritt) mit einem Gastspiel im Tacheles geliebäugelt. Hier hätte er einen Raum, der seiner wilden Ästhetik auf eine Weise entgegenkommt, wie es das schöne, edle Hebbel Theater trotz allem Charme nicht vermag. Andere Künstler treten im Tacheles (aus Liebe zum Ort) zu einem Bruchteil ihrer üblichen Gagen auf. Wichtig ist das Subkultur-Biotop als Experimentierfeld auch für andere Künstler. Während anderenorts Ateliermieten unbezahlbar werden, können in den 22 Tacheles- Arbeitsräumen auch nicht marktgängige Künstler arbeiten: Eine Avantgarde-Factory, in der Maler und Videoartisten, Bildhauer und Installationstechniker produzieren. Längst ist das Tacheles keine kleine Nische mehr: Hier entsteht die Kunst der neunziger Jahre. Wer das Tacheles schließt, arbeitet nicht nur an der kulturellen Verarmung Berlins, er zerstört einen der wenigen Freiräume unabhängiger Kunst.

Was das Tacheles-Gelände für die bildende Kunst bedeutet, können Sie morgen an dieser Stelle lesen.