Rußlands Chemiewaffen bleiben geheim

Prozeß gegen Chemiewaffenexperten Mirsajanow in Moskau / Anklage wegen Veröffentlichungen über neuen Kampfstoff / Protest gegen Ausschluß der Öffentlichkeit  ■ Aus Moskau Ulrich Heyden

Unter Ausschluß der Öffentlichkeit begann gestern in Moskau ein Prozeß gegen den Chemiewaffenexperten Wil Mirsajanow, dem der Verrat von Staatsgeheimnissen vorgeworfen wird. Er war im Oktober 1992 verhaftet worden, nachdem er mit Koautor Lew Fjodorow in der Zeitung Moskowskije Nowosti (Moscow News) einen Enthüllungsartikel über einen neuen binären Kampfstoff veröffentlicht hatte.

Gleich zu Beginn wurden die Verhandlungen bis zum 24. Januar ausgesetzt. Begründung: Sowohl Mirsajanows Anwalt als auch der Staatsanwalt seien krank. Dem Angeklagten droht eine Gefängnisstrafe zwischen drei und acht Jahren. Die beiden Autoren hatten geschrieben, daß das Moskauer Forschungsinstitut GSNIIOCT den neuen Stoff entwickelt hat. Der Kampfstoff, der nur in Verbindung mit einem anderen Stoff seine Wirkung entwickelt, sei weit gefährlicher als die herkömmlichen Kampfstoffe Sarin, Soman und das VX-Gas. Kommt ein Mensch mit dem neuen Stoff in Berührung, werde er bis an das Ende seines Lebens schwer geschädigt.

Mirsajanow arbeitete in einem geheimen Moskauer Forschungsinstitut, in dem Chemiewaffen entwickelt werden, und ist Geheimnisträger. Mirsajanow hatte in dem MN-Artikel nur geschrieben, daß das Mittel „neu“, „tödlich“ und „effektiver“ sei als der entsprechende Kampfstoff der USA. Er erwähnte keine technologischen Details.

Der Moskau-News-Redakteur Leonard Nikischin, der vom Gericht als Zeuge geladen ist, meint, der militärisch-industrielle Komplex wolle Mirsajanow hart bestrafen. Der Grund: Mirsajanow und Fjodorow haben immerhin behauptet, daß Rußland – anderslautenden Erklärungen und internationalen Verträgen zum Trotz – kontinuierlich an der Weiterentwicklung der Chemiewaffen arbeitet. Die Entwicklung des neuen Kampfstoffs steht im Widerspruch zum Internationalen Abkommen über die Vernichtung von Chemiewaffen. Dies hatte Rußland im Spätsommer 1992 in Genf unterzeichnet, mit den USA und über hundert anderen Staaten.

Mirsajanow und Fjodorow haben nachgewiesen, daß diejenigen, die die Entwicklung des neuen Kampfstoffs zu verantworten haben, im Frühjahr 1991 von Gorbatschow persönlich mit dem Lenin- Orden ausgezeichnet wurden. Auch auf Jelzin, der mehrmals erklärt hat, Rußland werde auf Chemiewaffen verzichten, fällt ein Schatten: Die praktische Erprobung des neuen Kampfstoffes lief nach seiner Wahl zum Präsidenten. Wenn die Enthüllungen von Mirsajanow und Fjodorow stimmen, dann gibt es kein ernsthaftes Interesse Rußlands am Ausstieg aus der Chemiewaffenproduktion.

Der Verantwortliche für das Programm zur Vernichtung der Chemiewaffen in Rußland ist ausgerechnet General Anatoli Kuntsewitsch. Er ist stellvertretender Chef der „Chemischen Verteidigung“. Im Fernen Osten auf dem Testgelände Schikhani kommandierte er Einheiten der Chemischen Kampftruppen. Die These von Mirsajanow und Fjodorow: In Rußland geht es heute nicht um die Konversion der Rüstungsindustrie, also deren Umwandlung zugunsten ziviler Güter, sondern um deren weitere Diversifikation, die Erweiterung der vorhandenen Waffenpalette.

Die friedensorientierte Produktion wird parallel dazu entwickelt, ohne daß aber die Rüstungsindustrie abgebaut wird. Anstatt die vorhandenen Gebäude, die Anlagen und das Personal für das Programm zur Vernichtung der Chemiewaffen zu nutzen, wird eine neue Struktur für dieses Programm aufgebaut. Die alte Chemiewaffenproduktion bleibt unangetastet.

Eine große Gefahr stellt auch der Transport der Kampfstoffe dar. Anstatt diese an ihren Lagerstätten zu vernichten, sollen sie mit der Bahn durch das Land zu den Orten transportiert werden, in denen es entsprechende Entsorgungsanlagen gibt. An Geld für die Vernichtung der russischen Chemiewaffen würde es wohl nicht mangeln. Die USA haben 1992 eine erste Zahlung von 25 Millionen Dollar angewiesen.

Koautor Fjodorow, der kein Geheimnisträger ist und somit nicht angeklagt wurde, gründete im letzten Jahr eine Gruppe, die die Öffentlichkeit über die Folgen der Chemiewaffenproduktion informieren will. Auf einer Pressekonferenz berichtete Fjodorow von der erschreckenden Bilanz. Die Produktion und das Testen der Chemiewaffen habe bis heute Hunderttausenden von Menschen die Gesundheit ruiniert. Tausende von Arbeitern hätten für das Programm schon mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die meisten starben in den 40er und 50er Jahren, als es noch keinerlei Schutzvorrichtungen gab.

Eine Million Russen leben heute auf Gebieten, die durch die Chemiewaffenproduktion verseucht sind. Selbst in der Hauptstadt Rußlands im Forschungsinstitut GSNIIOCT wird ohne Filter produziert, werden die Stoffe unter freiem Himmel gelagert. Giftige Substanzen können ungehindert in die Umgebung entweichen.

Zur Prozeßeröffnung hat die Moskowskije Nowosti die Veröffentlichung einer Erklärung von bekannten Persönlichkeiten gegen den Ausschluß der Öffentlichkeit publiziert. Zu den Unterzeichnern gehören der Reformpolitiker Gregori Jawlinski, der Jelzin-Berater Sergej Alexejew, der Historiker Jurij Afanasiew und andere prominente Personen. Als Zeugen vor Gericht sind neben dem Redakteur Leonard Nikischin zwei Journalisten der Zeitung Moscow Times, ein Mitarbeiter der Wochenzeitung Nowoje Wremja, zwei Experten von Mirsajanows früherer Abteilung und Fjodorow geladen. Ebenfalls in den Zeugenstand soll auch der US-Journalist Will Eglund, ein Korrespondent der Baltimore Sun. Eglund hatte Mirsajanow nach seiner Verhaftung interviewt. Daraufhin wurde der US-Journalist von russischen Geheimdienstlern verhört.