Dankenswerte Leerstelle im Zentrum

■ Gegen die Kastration: Kunst, die im Tacheles produziert wird, erschiene in genormten Ateliers unfreiwillig komisch

So ganz sicher ist man sich im Zuge der stündlich wechselnden Informationen zwar nicht, aber: Es scheint, als wäre das Tacheles noch einmal davongekommen. Der Plan der Oberfinanzdirektion Berlin, das Kunsthaus nach Prenzlauer Berg zu verlegen, sei, so heißt es, am Widerstand des Kultursenators gescheitert. Ob damit die drohende Abwicklung vom Tacheles und dem dort ansässigen Kunst- und Kulturverein abgewendet wurde, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Einen Tag nach Bekanntwerden des Vorhabens der Oberfinanzdirektion zauberte Kultursenatssprecher Klemke einen neuen, bislang unbekannten Investor hervor, der das Projekt einer Geschäftspassage zwischen Oranienburger und Friedrichstraße gemeinsam mit der schwedischen Skanska-Gruppe realisieren will und angeblich bereit ist, das Tacheles in seiner jetzigen Form zu erhalten.

Der bisherige Plan von Skanska war, das Gebäude zu sanieren und dann zu einem Preis von etwa 10 Mark pro Quadratmeter an die KünstlerInnen zu vermieten. Wie schnell ein solches Modell kippen kann, hat die Geschichte der Pankehallen an der Osloer Straße bewiesen. Der Gebäudekomplex mauserte sich vom besetzten Kulturzentrum zum luxuriös eingerichteten Atelierhaus. Die Mieten können sich nur noch KünstlerInnen leisten, denen ein finanzstarkes Stipendium von Staat und Industrie unter die Arme greift.

Im Falle des Tacheles steckt der Teufel in den städteplanerischen Details. Denn auch der Entwurf des von Skanska beauftragten Berliner Architekten Joseph Paul Kleihues sieht vor, die bunte Ruine an die neue Nachbarschaft, eine 30.000 Quadratmeter große Einkaufspassage, anzupassen und in eine glitzernde Kreation aus Stahl und Glas zu verwandeln. Von dem Kunsthaus in seiner jetzigen Form bliebe nach dem Umbau nicht mehr viel übrig.

Man muß kein Anhänger des Tacheles sein, um zu wissen, daß eine Domestizierung des Umfeldes der dortigen Kunst diametral entgegensteht. Noch wird im Tacheles geschweißt, gehämmert und geschmiedet, probiert und inszeniert, wie es gerade paßt. Die Malerei ist wild, expressiv, ungebärdet, der Ausdruck bisweilen grob, aber immer direkt, und meistens aus dem Bauch heraus. Solche Kunst macht man nicht in Sonntagskleidern und ebensowenig in einem Kleihues-Bau. Nicht selten wirken die Resultate, als seien sie aus einer Symbiose mit dem Gebäude hervorgegangen, als habe man den Schrott für die Plastiken direkt aus dem Keller geholt.

Keine Idee ist zu verrückt, um nicht realisiert zu werden. Ein Ikarus-Bus, schräg in den märkischen Sandboden gerammt? Bitte sehr. Eine „Rakete“ aus rostigen Stahlplatten zusammenbauen, die ausschaut wie ein riesiges Straußenei auf Stelzen? Wird gemacht. Tacheles-Kunst ist Großstadtkunst, da wird nichts vertuscht und glattgebügelt. Was drin ist, muß raus. So betrachtet sind die Tacheles- KünstlerInnen, zumindest die meisten davon, die legitimen NachfolgerInnen der Expressionisten der Brücke, und die haben schließlich auch nicht in Klein-Klöthen gelebt. Auch in Köln/Mülheim oder in Hamburgs Kampnagel-Fabrik hat sich die seitdem selbst von der Groß-Kultur bejubelte Malerei der „Neuen Wilden“ aus solchen Ruinen, als Widerstand zum schönen Schein der Einkaufspassagen entwickelt. Würde man diese Kunst an irgendeinen entlegeneren Ort verpflanzen, in ein brav nach DIN-Norm renoviertes Haus, sie wäre kastriert, ihrer Existenzgrundlage beraubt und erschiene unfreiwillig komisch.

Die Vielfalt, für die das Tacheles steht, ist nicht von vornherein eine Berliner Spezialität. Man findet sie in Köln, München, Hamburg und wohl einem weiteren Dutzend bundesrepublikanischer Städte. Berlin ist einzigartig deshalb, weil hier die Vielfalt unmittelbar und ungeschminkt ins Auge springt: Im Zentrum der Stadt funktioniert das Tacheles samt dem skulpturalen Schrottplatz vor der Tür wie eine dankenswerte Leerstelle im Stadtbild. Das Ausland sieht darin schon fast einen Mauer-Ersatz, mit dem auch die Ex-Olympia-GmbH unter Betonung des Schmuddel-Images warb.

Wenn Berlin nicht zu einem langweiligen Mittelklasse-Dorado verkommen möchte, sollte man akzeptieren, daß hier die Brüche und Kanten eben nicht abgeschliffen werden. Ein Stadtzentrum braucht Anziehungspunkte und Gegensätze, wenn es sich nicht nach Ladenschluß in eine Wüste verwandelt will, oder in eine Pflegestation für die Happy-few, die in der Staatsoper ihre Freunde treffen gehen. Wer ja sagt zum Tacheles, muß sich über die Konsequenzen im klaren sein. Kompromisse kommen nicht in Frage. Allein aus ästhetischen Gründen. Ulrich Clewing / Harald Fricke