Hemmschwellen gesunken

■ Zehn Jahre privates Fernsehen - Ein kritischer (Rück-)Blick auf die zersiedelte TV-Landschaft

Die Meinungsfreiheit sollte erweitert, die Programmvielfalt vergrößert werden; Bürger würden ein regionales oder lokales Sprachrohr erhalten, Minderheiten sich in den neuen elektronischen Medien wiederfinden. So stellte man sich die künftig blühende TV-Landschaft vor, als zum Jahresbeginn 1984 das „duale Rundfunksystem“, also das Nebeneinander von gebührenfinanziertem öffentlich-rechtlichen und werbefinanziertem privaten Hörfunk und Fernsehen, seinen Sendebetrieb aufnahm. Erst von Ludwigshafen, dann von Mainz aus gestaltete der Satellitensender Sat.1 ab dem 1.1.84 für mehrere Jahre Deutschlands einziges privates Vollprogramm. RTL plus, damals mit Sitz in Luxemburg, startete einen Tag später ein TV-Programm mit noch geringer Reichweite.

Sat.1, der Prototyp des Privatfernsehens, gab jedoch schnell ein Beispiel dafür, daß Kommerzsender nicht notwendig Programmvielfalt mit sich bringen, sondern vielmehr auf dem Fernseh- und Hörfunkmarkt einen wirtschaftlichen Konzentrationsprozeß auslösen, der die Programmherstellung, den Handel mit Filmen sowie die Zahl der Rundfunksender in den Händen weniger Eigner bündelt.

Ein Jahre dauernder Streit um die Vorherrschaft bei Sat.1 brachte den Mainzer Sender zum einen ins Hintertreffen gegenüber dem 1988 nach Köln umgezogenen Sender RTL plus. Zum anderen legte er beträchtliche Lücken in den rechtlichen Grundlagen für privaten Rundfunk bloß. Waren im Konsortium des „Verlegerfernsehens“ von Sat.1 ursprünglich noch Springer, Burda, Bauer, Bertelsmann, Gruner+Jahr und Holtzbrinck, die Zeitungshäuser der Südwestpresse, der Frankfurter Allgemeinen und Westdeutschen Allgemeinen sowie die Kabel-Media-Programmgesellschaft (KMP), die Agentur Aktuell Pressefernsehen (APF), der Filmverlag der Autoren und die Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk (PKS) vertreten, so blieb 1990 neben dem Axel-Springer-Verlag Leo Kirch als größter Teilhaber (direkt 43 Prozent, dazu indirekt neun Prozent) übrig. Überdies hält er 35 Prozent am Axel-Springer- Verlag.

Zum gegenwärtigen Imperium Kirchs ist neben Sat.1 der Spielfilmsender Pro 7 zu rechnen, den sich Leo Kirchs einziger Sohn Thomas und Kirchs früherer Mitarbeiter Georg Kofler teilen, dazu der Kabelkanal, der mehrheitlich in Besitz der Pro 7-Eigner ist, ferner das Deutsche Sportfernsehen (DSF) – ehemals Tele 5 – und der Pay-TV-Sender premiere. Schließlich ist Kirch zu gleichen Teilen mit dem Axel-Springer-Verlag Eigner der Internationalen Sportrechte- Verwertungsgesellschaft (ISPR), die die Übertragungsrechte der Fußball-Bundesliga-Spiele bis 1997 an Sat.1 übertrug.

Eine Mitverantwortung für diese Verflechtung tragen die Landesmedienanstalten, die sich bei der Vergabe der Sendelizenzen anfangs sehr großzügig zeigten. Mittlerweile gelingt es ihnen kaum noch, den Konzentrationswildwuchs zu durchforsten und die Kommerzialisierung mit Werberichtlinien im Zaum zu halten.

Werbeumfeld oder Qualitätsfernsehen?

Die Verteilung des Werbekuchens führte zur endgültigen Durchsetzung des Maßstabes der Einschaltquote und verringerte den Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk. ARD und ZDF erneuerten ihr Vorabendprogramm, um es als Werbeumfeld attraktiver zu gestalten. Man schuf ein gemeinsames Frühstücksfernsehen, um früher präsent zu sein, formte die dritten Programme von Bildungssendern zu Vollpropgrammen mit Unterhaltung um und schob Informationssendungen auf den späteren Abend. Große Teile der Kulturberichterstattung wurden in die 1984 gegründeten Kabelkanäle 3sat und Eins plus abgeschoben.

Damit trugen ARD und ZDF der Bildung von Spartensendern Rechnung – augenblicklich gibt es Sender für Sport (Eurosport, DSF), Nachrichten (n-tv, Euronews), Kultur (arte, 3sat) und Spielfilme (Kabelkanal, Pro 7, RTL 2).

Außerdem hielten bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten Sendeformen Einzug, die von den privaten Kanälen Sat.1 und RTL eingeführt worden waren. Den „Ungelösten Geheimnissen“ bei RTL ließ das Erste zum Beispiel „PSI“ folgen, dem Sexfilmangebot der Privaten schickte das ZDF eine Reihe erotischer Spielfilme hinterher. Jeder Frühling brachte einen neuen Trend: Gameshows, Sitcoms, Call-in-Sendungen.

Auch die Sprache und die Darstellungsformen unterlagen einer Veränderung. Während die Kommerzsender sich um Seriosität mühen, drückt man sich bei ARD und ZDF inzwischen salopper und plakativer aus, und zunehmend setzt man anstelle des Wortes auf optische Mittel wie Graphiken, Schriftbänder und Studiodesign. Begleitet von Shows wie „Der heiße Stuhl“ oder „Explosiv“ gewannen sicheres Auftreten, Schlagfertigkeit und gutes Aussehen an Bedeutung. Politiker unterlagen mehr und mehr der Anwesenheitspflicht im Fernsehen. Verstärkt rückten in Shows wie „Mann- o-Mann“, „Verzeih mir“, „Herzblatt“ oder „Kollegen, Kollegen“ auch die Zuschauer selbst ins Blickfeld. Hemmschwellen sanken, Intimes wurde „geoutet“, die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wurde aufgehoben.

Die fortschreitende Medialisierung, wie diese Eroberung des Alltäglichen durch das Fernsehen genannt wird, verwischte den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fernsehen und erreichte mit „Reality-TV“-Sendungen wie „Notruf“, „Retter“ oder „Augenzeugenvideo“ ihren derzeitigen Höhepunkt. Die wachsende Ununterscheidbarkeit zwischen Wirklichkeit und Fiktion beförderte wieder die Diskussion über die mögliche Förderung der Gewaltbereitschaft durch das Fernsehen.

Switchen oder Ausschalten?

Auch beim Zuschauer bewirkte der Ausbau der elektronischen Medien eine Verhaltensänderung. Die Programmfülle und ihre Ausstrahlung rund um die Uhr erfordern die technische Beherrschung nicht nur des Fernsehapparates und der Fernbedienung, sondern auch eines Videorecorders. Die Filmauswahl bedarf gründlicherer Informationen, häufiges Hin- und Herschalten zwischen den Sendern, also Zappen, Switchen, Channel-Hopping, senkten die Wahrnehmungs- und Aufnahmebereitschaft der Rezipienten.

Manche Fernsehzuschauer entdeckten an ihrem Gerät aber auch die „Aus“-Taste wieder; 1992 sank im Westen Deutschlands erstmals die durchschnittlich vor dem Bildschirm verbrachte Lebenszeit. Die in Nürnberg ansässige Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die täglich die Einschaltquoten hochrechnet, stellte fest, daß an manchen Tagen nur in jedem zweiten Haushalt Deutschlands das Fernsehgerät eingeschaltet ist.

Auch das ruft Kritiker auf den Plan, die diese Entwicklung als Folge des Verlustes von Qualität und Meinungsvielfalt ansehen und der Einführung des Privatfunks ankreiden. Doch entpuppen sich manche Verteidiger des öffentlich- rechtlichen Rundfunks oftmals nur als Bildungsbürger, die das Fernsehen ohnedies als geschmacklos ablehnen. Sie lassen außer acht, daß zumindest die anfangs genannte Unübersichtlichkeit des Programmangebotes keine Folge des Privatfunks ist. Schon 1980 befand Peter Christian Hall, damals Chefredakeur der Zeitschrift medium: „Ich kenne aber viele, die mit den gegenwärtigen drei Fernsehprogrammen nicht vernünftig umgehen können, sondern nahezu wahllos stets irgendeines konsumieren.“ Auch der Vorwurf der Verdummung Jugendlicher, die das Medium Fernsehen in Gestalt privater Sender betreiben soll, trifft Untersuchungen zufolge kaum zu. Sie belegen, daß eher Erwachsene über 50 Jahre der Vielseherei huldigen als Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren.

Unbestritten hat die Einführung des Privatfernsehens auch gute Seiten: Die Offenen Kanäle in Rheinland-Pfalz, Nordrhein- Westfalen und Berlin verminderten die Hemmschwelle vor den Massenmedien Hörfunk und Fernsehen. Lokale Radiosender wie Radio Dreyeckland in Freiburg oder Radio Z in Nürnberg ermöglichten eine Gegenöffentlichkeit von Randgruppen, und regionale Hörfunkstationen, wie sie im Rhein-Neckar-Dreieck am dichtesten angesiedelt sind, gewährleisten eine größere Bürgernähe beziehungsweise eine Spezialisierung gemäß der Hörerinteressen.

Was nun allgemein als Verflachung der Programme verurteilt wird, drückt lediglich die mehrheitliche Lebensform in einer sich ändernden Freizeit- und Konsumgesellschaft aus, deren Vorlieben für Buntheit, Unbekümmertheit, Unterhaltung und Neuigkeiten bald wieder von anderen Bedürfnissen abgelöst werden können. Im übrigen ist das Urteilsvermögen des Publikums privater Sender so schlecht nicht, sieht sich doch der TV-Marktführer RTL laut Einschaltquotenvotum dazu verpflichtet, 1994 sein Informationsangebot auszubauen.

Mehr oder weniger Programm?

Weitere technische Weichenstellungen stehen bevor, die die Fernsehlandschaft erneut verändern werden. Im Zuge der Digitalisierung werden bald vier bis zehn Programme auf einer Satellitenfrequenz übertragbar sein. Den Zuschauern wird um die Jahrtausendwende eine Hundertschaft von Fernsehprogrammen einen bewußteren Umgang mit dem Medium abverlangen. Weitere Spartensender und sogenannte Pay- TV- beziehungsweise Pay-per- view-Programme, bei denen man nach Sehdauer bezahlt, werden zur weiteren Aufsplitterung des Publikums, zur weiteren „Vereinzelung“ führen.

Das Fernsehen als Medium großer gesellschaftlicher Debatten dürfte dann vollends passé sein. Die Explosion der Kanalzahl auf bis zu 500 wird auch einsetzenden Diskussionen über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks neue Nahrung geben. Schon Ende 1996, wenn der derzeitige Gebührenstaatsvertrag endet, stellt sich für die kleinen ARD- Sender wie Radio Bremen (RB) oder Saarländischer Rundfunk (SR) die Existenzfrage. Manfred Loimeier