Erneut Bedenkliches

Bekanntlich startete vor einer Woche die Weltgeschichte ins „Jahr der Familie“, dessen propagandistische Bemühungen wohl ebenso erfolgreich sein werden wie die zum „Jahr des Kindes“ 1990: Nach vier Jahren anhaltender Bemühungen um das Kind als solches, das arme Kind, das mit vielen Geschwistern, das Kind im Süden wie im Norden, gibt amnesty international bekannt, daß nach wie vor in 35 Ländern Folter, „Verschwindenlassen“ und staatlicher Mord an Kindern registriert wurden. In Irak, Bangladesch, Pakistan und diversen anderen Staaten sind Menschenrechtsverletzungen an Kindern fester Bestandteil des Rechtssystems; in den USA befinden sich 29 Jugendliche in Todeszellen und warten dort – vermutlich ausgerüstet mit einem guten Jugendbuch aus der Anstaltsbibliothek – auf ihre Hinrichtung. Allein in Kolumbien wurden 1991 mindestens 2.800 Straßenkinder ermordet – die Kommandos setzten sich dabei erwiesenermaßen aus staatlichen Polizeikräften zusammen, deren Erbarmen mit den obdachlosen und bettelnden Geschöpfen offenbar überhandnahm.

Wir gehen also mit guten Aussichten in dieses „Jahr der Familie“, das die Gruppe der Betroffenen gewissermaßen auf die ganze Menschheit erweitert hat: solange die Reproduktionsmedizin von fast allen Seiten lediglich Behinderung erfährt, sind überall Personen anzutreffen, die noch Väter, Mütter und vielleicht sogar Geschwister haben. Auch die Bundesregierung hat sich deshalb nicht lumpen lassen und gut drei Millionen Mark lockergemacht, um ein „familienfreundlicheres Klima“, so die zuständige Ministerin Rönsch, in der Gesellschaft „zu verankern“.

Der Anker trifft auf guten Grund: Über eine halbe Million Kinder, gibt der Deutsche Mieterbund bekannt, sind in Obdachlosenasylen oder vergleichbaren Behausungen untergebracht; und daß für parkende Autos etwa hundertmal mehr Platz da ist als für spielende Kinder, ist zwar eine Phrase geworden, aber damit noch nicht geändert. Das neue Deutschland hat dafür gesorgt, daß in den östlichen blühenden Landschaften die Geburtenrate um zwei Drittel gesunken ist, weil die Mütter – ungebrochen verantwortlich für Gefühle im allgemeinen und Windeln im besonderen – still und leise abdanken und sich für ihre Rentensicherung eher einen Arbeitsplatz wünschen als verstörte Nachkommen, die in engen Wohnzimmern mit Papas Videos abgefüttert werden. Es verhält sich mit Kindern eben wie mit Behinderten: Wenn eine Gesellschaft sich gegen ausgewählte Mitglieder immunisiert, indem dieselben verwahrt, weggesperrt und überhaupt möglichst unsichtbar gemacht werden, blockiert sie auch ihre eigene Veränderung. Daß Wissen um die Situation der Kinder ist das eine, die Wahrnehmung etwas anderes – und die Voraussetzung jeglicher Politik. In diesem Sinne: Auf ein gutes neues Jahr. ES