■ Agnes Heller: Die Welt nach dem Ende des Kommunismus
: Der Osten als Antragsteller

Wir leben in einer Welt ohne Vormund, doch mit globaler Verantwortung. Das jedoch ist ein geringer Trost für diejenigen, die „hier“ und „jetzt“ leben und sich ohne Fürsorge verloren und verraten fühlen. In dieser „neuen internationalen Unordnung“, um Ken Jowitts Formulierung zu verwenden, gibt man ihnen sowohl eine unhaltbare und gefährliche Empfehlung als auch eine sogenannte „realistische“ Beschreibung der Gegenwart. Letztere stellt, um es deutlich auszudrücken, nichts anderes dar als ein neues Drehbuch für politischen Nihilismus.

Die Empfehlung legt den USA nahe, nach der Auflösung der Sowjetunion die Rolle als einzige Supermacht zu akzeptieren. Dieser Vorschlag ist gefährlich, denn eine einzige Supermacht wäre in Wirklichkeit eine Weltdiktatur, deren Hegemonie gehaßt und bekämpft würde – ein Rezept für eine ganze Epoche neuer Katastrophen. Aber die Empfehlung ist auch unhaltbar: weil erstens die Vereinigten Staaten nicht bereit wären, auch nur einen Bruchteil der Belastungen zu übernehmen, die mit einer derartigen Rolle verbunden wären, und weil zweitens eine einzige Supermacht ganz andere Funktionen hätte als eine im Rahmen einer Zweierkonkurrenz. Damals hatte jede der beiden Supermächte eine doppelte Aufgabe: Sie mußte das Militär mit den nötigen Mitteln versorgen, damit ihre Bündniskoalition im Geschäft blieb, und sie mußte in ihrem eigenen Bündnis „Ordnung halten“. Demgegenüber wäre eine „einzige Supermacht“ zuständig für buchstäblich alle Angelegenheiten der Welt – eine Zumutung, der in unserer Zeit mit ihrer integrierten Weltwirtschaft kein Land gerecht werden könnte.

Der nihilistischen Beschreibung zufolge soll der Beobachter all diese komplizierten Angelegenheiten außer acht lassen und die Situation so sehen, wie sie wirklich ist. „Wirklich“ bedeutet hier, daß es mit dem Verschwinden des Kommunismus keine Macht mehr gibt, die das internationale Kapital an seiner freien Zirkulation hindern könnte. Alle Spekulationen über Institutionen, die diese Automatik mit einem gewissen Maß an Gerechtigkeit und Harmonie bereichern, sind demnach entweder Utopien oder aber Ideologien, um die neue Konstellation vor einem breiteren Publikum zu rechtfertigen. Wenn wir zunächst einmal Simplifikationen dieser Argumentation beiseite lassen, dann läßt sich vor allem sagen, daß hier nicht nur eine Welt ohne Fürsorge ins Auge gefaßt wird, sondern auch eine Welt ohne Verantwortlichkeiten. Aber wenn wir versuchen wollen, uns aus dieser „neuen internationalen Unordnung“ zu befreien, dann ist „Verantwortlichkeit“ ein Schlüsselbegriff.

„Verantwortlichkeiten“ sind – räumlich und zeitlich – begrenzte Verpflichtungen, die ein Land oder eine Ländergruppe eingeht, ohne die Rolle einer Weltregierung zu übernehmen. Einer Verantwortlichkeit dieser Art muß ein formales Abkommen vorausgehen, denn ohne dies gibt es keine Verpflichtung. Es muß die Verantwortlichkeit für ein bestimmtes Ziel sein und nicht für die „Beherrschung der Welt“ insgesamt. Sie muß sich leiten lassen von Prinzipien der Gerechtigkeit, aber nicht von einer bestimmten Weltanschauung. Sie muß ein Angebot sein und nicht mehr – man nehme es an oder lasse es bleiben.

Verantwortung sollte möglichst auf Gegenseitigkeit abzielen, damit sie nicht zu „Paternalisierung“ verkommt; im Idealfall sollte sie bei jenen, für die Verantwortung übernommen wird, ihrerseits eine Verpflichtung erzeugen. An einem bestimmten Gebiet (der neuen Europäischen Gemeinschaft) und einer bestimmten Art von Ansprüchen (denen einiger osteuropäischer Länder, zumindest teilweise von ihren Schulden befreit zu werden) will ich diese Vorstellung exemplifizieren.

Die grundlegenden Dokumente der europäischen Einigung sehen die folgenden Voraussetzungen für die Mitgliedschaft vor: Die Mitgliedsländer dürfen untereinander keine Kriege führen; sie müssen ihre Streitigkeiten mittels Verhandlungen beilegen, wobei die Europäische Gemeinschaft in einem Konflikt die Rolle des Schiedsrichters übernimmt. Sie müssen die freie Zirkulation der Arbeitskräfte in ihren Ländern ermöglichen. Schließlich sollten vergleichbare Standards der Menschenrechte und sozialen Gerechtigkeit gelten. Bei den Verträgen der Europäischen Gemeinschaft handelt es sich also um eine begrenzte Vereinbarung, in der die formellen Verpflichtungen geregelt sind. Die geplante Struktur der europäischen Einheit ist offensichtlich geleitet von Prinzipien der Gerechtigkeit, aber ebenso offensichtlich nicht von einer bestimmten politischen oder religiösen Weltanschauung, denn das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, ursprünglich eine sozialistische Idee, kann nicht länger einer bestimmten politischen Richtung zugeordnet werden. Die Forderung, daß es sich lediglich um ein Angebot handelt, ist in der Charta festgeschrieben, und die Schiedsrichter sind selbst Bürger des vereinten Europa, die offensichtlich nicht auf einem archimedischen Punkt außerhalb, sondern auf dem Boden der Gemeinschaft stehen.

An diese Körperschaft können die neuen Demokratien ihre Ansprüche richten. Zunächst können sie sich um eine Mitgliedschaft regelrecht bewerben. Dieser Anspruch kann als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sich die vorherrschende Kultur des betreffenden Landes einmal als europäisch bezeichnet und diesen Anspruch niemals widerrufen hat. In diesem Sinne ist das historische Rußland mit Sicherheit europäisch, viele seiner Eroberungen sind es dagegen offensichtlich nicht.

Sobald diese verwickelte Frage geklärt ist, sobald also eine Atmosphäre der Aufnahme und nicht der Ausschließung herrscht, kann der zweite Anspruch geltend gemacht werden: die Frage der osteuropäischen Verschuldung. Die gewaltigen Schulden, die unter der kommunistischen Herrschaft aufgehäuft wurden, lähmen diese ohnehin bereits relativ armen Länder. Die früheren Kreditaufnahmen waren willkürliche Handlungen jener Regierungen und standen in keinerlei Beziehung zum öffentlichen Willen. In ihren Motiven für die Kreditaufnahme unterschieden sich diese Regierungen im Grunde nicht von autoritären Regimes in Lateinamerika: Anstelle demokratischer Reformen wollten sie doch wenigstens den Mittelklassen einen Anschein von Wohlstand gewähren.

Es ist richtig, daß die Bevölkerung in einigen Ländern dieser Strategie stillschweigend zustimmte. Wer im Ungarn der 80er Jahre auch nur über ein Minimum an Realitätsbewußtsein verfügte, der wußte, daß die Stabilität und die relative Offenheit des späten Kádár-Regimes auf ausländischen Darlehen beruhte, von denen nicht nur die Nomenklatura, sondern auch die neuen Mittelklassen profitierten. Auf dieser Grundlage können die Völker die Rückzahlung nicht von vornherein verweigern. Aber immerhin können sie ein utilitaristisches Argument sowie ein Argument der Gerechtigkeit für ihre Sache vorbringen.

Das utilitaristische Argument lautet, das heutige vereinte Europa könne an einer verarmten Peripherie nicht interessiert sein; einer Peripherie, die sich aus materieller Enttäuschung heraus den schlimmsten Abenteurern zu einem Kreuzzug gegen Europa anschließen könnte oder aus der Europa mit Millionen Flüchtlingen überschwemmt werden könnte. Das Argument für Gerechtigkeit liegt auf der Hand: Die Charta fordert die Anwendung gleicher Maßstäbe und schließt per definitionem die Kolonisierung aus. Dieses Prinzip muß auch für die Antragsteller gelten.

Aufgrund des oben Gesagten sollten sich die Antragsteller an die Gremien des vereinten Europa wenden – nicht, um bei ihnen an ein Gefühl der Fürsorge zu appellieren, sondern um ihre Entschlossenheit zu fördern, die Verantwortung zumindest für einen Teil der Belastung zu übernehmen. Die möglichen Antworten auf diesen Anspruch können von den heuchlerischsten und egoistischsten Ablehnungen bis zu einer echten Übernahme von Verantwortung reichen.

Aber aller Wahrscheinlichkeit nach enthielte selbst die großzügigste Antwort den Versuch, eine Gegenverpflichtung des Antragstellers zu begründen. Diese könnte zum Beispiel so aussehen: Es ist das unbestreitbare Recht jeder einzelnen neuen Demokratie, die inzwischen abgestorbene Politik des zentraleuropäischen Regionalismus zu den Akten zu legen. Dennoch muß die Maxime der Solidarität zwischen jenen herrschen, die die gleiche Geschichte durchlebten. Versucht Euch also nicht auf Kosten der anderen vorzudrängen; legt dem vereinten Europa einen gemeinsamen Vorschlag vor, statt bewußtlos gegeneinander zu intrigieren. Wer auf den macchiavellistischen Geist aufeinanderfolgender politischer Establishments setzt, behält öfter recht als seine „idealistischen“ Gegenüber. Aber auch der „Idealist“ besitzt eine unschlagbare Trumpfkarte. Jedesmal wenn wir nach einem Wendepunkt beginnen, die Scherben aufzusammeln, die im Verlauf einer neuen, durch macchiavellistische Vernunft ausgelösten Katastrophe entstanden, greifen wir auf eine überarbeitete Version der immer gleichen Utopien sozialen Fortschritts zurück – eine ehrwürdige Übung. Agnes Heller

Aus dem Englischen von Meinhard Büning

Der erste Teil des Textes erschien unter dem Titel „Der Westen als Phantom“ am 16.10.93