Ukraine: Atomraketen gegen Wirtschaftshilfe

■ Das Außenministerium in Kiew dementiert Meldungen über Abrüstungsvertrag

Berlin (taz) – Was US-Präsident Bill Clinton am Montag abend noch als „historischen Durchbruch“ gefeiert hatte, das wurde am Dienstag vormittag vom Kiewer Außenministerium bereits wieder dementiert: Es sei „noch nicht sicher“, daß die Ukraine das Abkommen über die Abrüstung ihrer Atomraketen unterzeichne. Falls bis Freitag keine vollständige Fassung des Abkommens vorliege, werde das Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Krawtschuk, Jelzin und Clinton „ausschließlich beratenden“ Charakter haben.

Die widersprüchlichen Äußerungen über Erfolg oder Mißerfolg der Verhandlungen können freilich kaum überraschen. Seit der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 haben ukrainische Politiker mit ihren Positionen zum Atomwaffenstatus ihres Landes für immer größere Verwirrung gesorgt. In ihrer Unabhängigkeitserklärung hatte sich die Ukraine „atomwaffenfrei, blockfrei und neutral“ erklärt, im Juni des vergangenen Jahres verabschiedete das Parlament in Kiew dagegen eine Erklärung über die „Atommacht Ukraine“. Atomwaffenfrei werde man erst „in Zukunft“ sein. Für die „Überführung“ der rund 1.800 Atomsprengköpfe nach Rußland wurde eine Entschädigung von drei Milliarden Dollar gefordert. Außerdem müsse das Land von den USA und Rußland Sicherheitsgarantien erhalten.

Die Atomwaffen waren der einzige Trumpf des ökonomisch noch weit hinter Rußland zurückfallenden Landes. Sollte es, so die Kiewer Überlegung, auf diese verzichten, würde es für den Westen völlig uninteressant sein. Befürchtet wurde aber auch, daß Rußland die Sprengköpfe nicht vernichten und gegenüber Kiew erst recht als Großmacht auftreten wird.

Eine erste Annäherung hatte es im Oktober beim Besuch von US- Außenminister Warren Christopher in Kiew gegeben. Im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras fiel es Krawtschuk schwer, seine Forderungen aufrecht zu erhalten. Und auch die sich ständig verschlechternde ökonomische Situation erzwang ein Einlenken; bereits wenige Monate zuvor hatte der Präsident in ein Tauschgeschäft einwilligen müssen: Moskau erließ Kiew einen Teil seiner Schulden und erhielt dafür die ukrainische Schwarzmeerflotte.

Das nun vorbereitete Abkommen hilft Kiew in erster Linie bei der Lösung seiner Energieversorgungsprobleme. Das in Rußland angereicherte Uran der Sprengköpfe kann für den Betrieb der Atomkraftwerke verwendet werden. Andererseits wächst dadurch jedoch die Abhängigkeit von Moskau. Denn auch Öl und Gas erhält das Land aus Rußland.

Ungeklärt ist bis jetzt die finanzielle Seite des Abkommens: Neben den bereits im Oktober vereinbarten 330 Millionen Dollar beansprucht die Ukraine 2,8 der 12 Milliarden Dollar, die der Verkauf des weltweit „abgerüsteten“ Urans in den kommenden 20 Jahren bringen soll. Nach den Plänen der USA soll die Ukraine dagegen nur eine Milliarde erhalten.

Wenn die Kiewer Regierung nun erneut zögert, das Abkommen zu unterzeichnen, reagiert sie damit auf die Kritik ihrer innenpolitischen Gegner. Bereits im September hatten 15.000 Ukrainer bei einer Demonstration in Kiew Krawtschuk die Vernachlässigung der ukrainischen Sicherheitsinteressen vorgeworfen und den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Die in dem Abkommen vorgesehenen Sicherheitsgarantien – im Rahmen von KSZE und Atomwaffensperrvertrag – dürften der Opposition kaum genügen. Abgeordnete Golowaty: „Das Abkommen wird einen Skandal provozieren.“

Im März finden in der Ukraine Neuwahlen statt, und der Wahlkampf hat bereits begonnen. Nach Umfragen vom Sommer 1993 befürworten 36 Prozent der Bevölkerung den Atommachtstatus, ein Jahr zuvor waren es lediglich 18 Prozent. Die US-Regierung hat dennoch keine Zweifel, daß Krawtschuk den Vertrag durchsetzen wird. Zur Not könne der Präsident das Parlament umgehen und das Abkommen per Dekret in Kraft setzen. Sabine Herre