Moskau: Abgeordnete im Abstimmungsstreik

■ Konstituierende Sitzung der Staatsduma begann mit Tumulten / Präsident Jelzin spricht nur vor dem Föderationsrat / Noch keine Wahl des Parlamentspräsidenten

Moskau (dpa/AP/taz) – Schlimmer hätte es kaum kommen können: Die konstituierende Sitzung der russischen Staatsduma begann mit Geschrei und Tumulten, der Parlamentsälteste war unfähig, die Debatte in Griff zu bekommen, aus Protest gegen seine Geschäftsordnungstricks trat wenige Stunden nach Beginn der Sitzung die Hälfte der Abgeordneten in einen Abstimmungsstreik.

Viele reformorientierte Politiker sahen sich so in ihren Erwartungen bestätigt: Da die Duma ebenso wie der Oberste Sowjet von der Spaltung zwischen Jelzin-Gegnern und Anhängern bestimmt ist, werden nun die alten Auseinandersetzungen fortgeführt. Präsidentenberater Wolkogonow: „Es wird das gleiche Spektakel – nur mit neuen Figuren.“

Und so verzichtete auch Präsident Jelzin auf die geplante Rede vor dem Unterhaus. Statt dessen erschien er vor dem ihm freundlicher gesonnenen Föderationsrat, der Versammlung der Vertreter der Regionen, und forderte in einer rund fünfzehnminütigen Rede einen „zweiten Atem“ für die Reformen. Beifall erhielt er jedoch auch hier kaum.

Die Sitzung des Unterhauses wurde von dem 68jährigen Georgi Lukawa eröffnet. Der älteste Abgeordnete der Staatsduma ist Mitglied der Fraktion der „Liberaldemokratischen Partei“ Wladimir Schirinowskis, bezeichnet sich selbst jedoch als Kommunisten. In seiner Ansprache wandte er sich an die „lieben Mitbürger Großrußlands“: „Die Blicke der ganzen Welt richten sich auf diesen Saal. Die konstituierende Sitzung tritt zu einem Zeitpunkt der wirtschaftlichen, sozialen, spirituellen und militärischen Krise zusammen.“

Vertreten wurde Jelzin von Regierungschef Tschernomyrdin. Bereits in den vergangenen Wochen hatte sich abgezeichnet, daß sich der einstige Chef eines Energiekonzerns von der „Schocktherapie“ Vizepremier Gaidars distanzieren werde. Nun forderte er, „das Gesicht der Reformen in der Sozialpolitik dem Volk zuzuwenden“. In vorsichtig formulierter Distanz zum russischen Präsidenten kündigte der Premier eine Korrektur des Regierungsprogramms an. Zugleich verlas Tschernomyrdin einen Appell Jelzins, der die Abgeordneten zu einem „zivilisierten Dialog“ aufrief.

Daß Kommunisten und Faschisten in der Staatsduma gemeinsam gegen die Reformer stehen werden und der gewünschte zivilisierte Dialog kaum möglich sein wird, machten jedoch bereits die ersten Stunden der Debatte deutlich. So scheiterte die „rot-braune“ Initiative, die Größe der Fraktionen auf fünfzig Abgeordnete festzulegen, nur knapp. Sollte dieser Vorschlag doch noch durchkommen, würde auf seiten der Reformer lediglich Gaidars Partei „Rußlands Wahl“ mit ihren etwa 93 Abgeordneten den Fraktionsstatus erhalten. Bei den Jelzin-Gegnern haben dagegen sowohl die Kommunisten als auch Agrarier und „Liberaldemokraten“ mehr als 50 Abgeordnete.

Die Duma dürfte sich in den zwei Jahren ihrer Legislaturperiode so als weitgehend beschlußunfähig erweisen. Zunächst konnte man sich nicht einmal auf einen Abstimmungsmodus einigen, angesichts der Unfähigkeit Lewadas, der immer wieder Unterstützung bei Schirinowski suchte, wollten die reformorientierten Abgeordneten die Debatte verlassen. Erst nachdem zwei Abgeordnete gewaltsam versucht hatten, den Parlamentsältesten an der Leitung der Sitzung zu hindern, legte dieser sein Amt nieder. Auch die geplante Wahl des Parlamentsvorsitzenden war nicht möglich. Die Parteien einigten sich jedoch darauf, die Sitzungen bis zur Wahl des Dumapräsidenten abwechselnd von ihren ältesten Mitgliedern leiten zu lassen. her