Auf daß die Schriften erfüllt werden

■ Als deutsche Erstaufführung: Lars Noréns „Herbst und Winter“ im Bremer Schauspielhaus

Schon wieder hat sich auf der Bühne bewahrheitet, daß die bürgerliche Familie eine Katastrophe sei! Aber man muß sagen: Im Schauspielhaus schöpfen wir wenigstens neues Vergnügen aus dem alten Verdruß.

Allein z.B. unser Fried Gärtner, wie er den ganzen Abend in unerschöpflicher Zagheit vor sich hin hockt, das ist schon was wert. Hocken muß er, weil er der schwache Vater ist. Nicht einmal die trotzige Tochter, namentlich Cornelia Kempers, reißt ihn heraus, so sehr sie auch in der ganzen Familie herumwütet und lärmt und fleht und auf dem Recht ihres Unglücks beharrt. Und drittens die Schwester, also Kirsten Block, richtet schon gar nichts aus, denn sie ist die erfolgreiche Tochter und hat nur Geld. Und wenn wider alle Konstellation doch noch etwas geschähe, die monströse Mutter wüßte es natürlich zu ersticken im Namen der Familie, jedenfalls fast.

Hier hat, wie man sieht, ein jeder sein Kapitel aus dem Psychoanalysebuch abgekriegt; der Jammer hält sich aber in Grenzen. Vor allem die Gestalt der Mutter, wie sie uns bei diesem Familientreffen von Jennifer Minetti gegeben wird, ist ein Zuckerschlecken für die Freunde des Mimenhaften in der Schauspielkunst. Sie gellt alleweil um sich mit der siegreichen Fröhlichkeit der Sadisten, ja sie kann wie eine Wachtel schlagen, wenn es um die scheußlichsten Dinge geht, und sie spielt uns Wahn und Wonnen dieses Übermuttchens aufs Prächtigste aus. (Schlechtere Menschen würden sagen: Sie spielt sehr minettihaft, nämlich als würden alle zuschauen.) Wie auch immer: Da bleibt kein Register ungezogen.

Aber selbst eine solche Mutter kann nicht verhindern, daß im Laufe dieses Abends einmal mehr oder weniger alles von allen gesagt werden wird. Dafür hat der Autor beileibe schon gesorgt. Von Anfang an reden die Figuren so zielbewußt aneinander vorbei, daß uns die Ohren klingeln. Wie gräßlich schrammen schon die Dialoge, denken wir uns, wie mißlich tönen schon die Ackorde in diesem Quartett! Da wird die Auflösung eine ganz unausweichliche, wenn nicht explosive sein! So ist es, und der Reihe nach kommen alle dran und hauen den andern ihre Wahrheit neunschwänzig um die Ohren; eine jede Stimme hat ihr großes Solo, und überhaupt ist das ganze ein bißchen zu jazzig, als daß es tief sein könnte. Der Regisseur Hansjörg Betschart hat dennoch gut daran getan, sich auf den Text zu verlassen. Darin ist ja doch eine Menge Klang, von den schönen Witzchen und Wendungen zu schweigen, die uns stärken in all dieser Verdammnis.

Lars Norén hat seine Verdienste als Sprachmusikant. Kaum einer kann derzeit die Stimmen der Verzweiflung bzw. Einsamkeit bzw. Geworfenheit so kunstreich zu einem Seelenshowdown zusammenführen. Bei so einem haben's vor allem die Schauspieler gut. Von der ersten Minute, da sie uns wie zum Familienfoto gefroren so eisheilig entgegengrinsen, bis zur letzten, da sie wieder in ihre Privatverhängnisse entschwinden, gibt's für allesamt reichlich zu spielen: Variationen, Akkordfortschreitungen und Ausbrüche von der Art, wie sie uns unweigerlich in die Knochen fahren.

Das machen die Vier schon alles sehr gut, und über dem Spiel waltet mit Umsicht der Geist der Regie und sorgt, daß alles beieinander bleibt. Man hätte vielleicht den ersten Akt ein wenig subtiler, ja diabolischer anlegen können, um den Sog in den zweiten hinein zu verschärfen, aber sonst war's schon recht.

Daß sich besseres nicht sagen läßt, liegt am Stück. Es hat jede Menge Untergangsdrive und Norénsound, aber es hat keine Gestalten, mit denen man nach der Aufführung noch ein Weilchen dahinleben möchte. Es hat nur Seelchen, über die man baldigst alles weiß, und wenn nicht, dann reicht's einem jedenfalls: Der schwache Vater hatte selber eine monströse Mutter, wie wir unterrichtet werden; die trotzige Tochter hat wiederum einen kaputten Sohn, weil sie alles ausbaden mußte, heftiger noch als die erfolgreiche Tochter, die wiederum vor lauter Erfolghaben gleich gar keine Kinder mehr kriegen kann und sich fühlt „wie ein Sarg“. Das sind so die Kausalitäten des Seelenlebens, und hier gehen sie auch noch alle auf.

Das ist der Fluch des psychologischen Realismus. Er kann sein ganzes schönes Theater immer nur in Bewegung setzen, auf daß die Schriften der Ratgeberliteratur erfüllt werden. Die aber kennen wir schon. Manfred Dworschak

nächste Vorstellung: heute um 20 Uhr im Schauspielhaus