■ Halle: Ungeahnte polizeiliche Aktivitäten gegen Rechts
: Hierarchie der Opfer?

Es geht also doch. Es braucht nur einen ganz besonders abscheulichen Anlaß, damit der Polizeiapparat ungeahnte Energien und Personalkapazitäten freisetzt und intensiv nach rechten Gewalttätern fahndet. Noch am Abend des Tages, an dem eine 17jährige Schülerin aus Halle in ihrem Rollstuhl von mehreren Jugendlichen drangsaliert, verletzt und zutiefst gedemütigt wurde, werden 200 Wohnungen und Treffpunkte der einschlägigen Szene durchsucht. Am nächsten Tag eine bundesweite Großfahndung nach den Tätern, Ermittlungsgespräche der Kripo in Schulen und Jugendclubs. Plötzlich ist die ostdeutsche Polizei nicht mehr überlastet. Und auch die Bürger Halles sind – so zeigt die gestrige Großdemonstration – in die Strümpfe gekommen. So ernst also kann man rechte Gewalt auch nehmen. Man muß nur wollen.

Daß der Überfall auf eine wehrlose behinderte Frau diesen Willen mobilisiert hat, ist gut und macht doch gleichzeitig bitter. Wie viele ausländerfeindliche Anschläge hätten verhindert werden können, wenn Sicherheitsbehörden und Politiker gleich von Anfang an signalisiert hätten, daß rechtsradikale Gewalt nicht nur ein Angriff auf das einzelne Opfer ist, sondern auf eine gesamte Gesellschaft. Wie hoffähig wären rechte Parolen geworden, wenn die Bundesregierung gleich nach den ersten Morden an Immigranten und Asylbewerbern einen Krisenstab eingesetzt hätte und die Bewohner der jeweiligen Städte zu Tausenden auf die Straße gegangen wären? Es sähe heute anders aus in diesem Land.

Als im brandenburgischen Eberswalde der Afrikaner Antonio Amadeu auf offener Straße zu Tode geprügelt wurde, sahen Polizeibeamte unbeteiligt zu. Für ihre Untätigkeit blieben sie bis heute ungestraft. Wenn in Halle jetzt Polizisten längst überfälligen Fahndungseifer zeigen und eine Stadt gegen Rechts protestiert, dann könnte das – bundesweit – ein ermutigendes Zeichen von Lernfähigkeit sein. Solange uns die Zukunft nicht eines Besseren belehrt, lassen die Erfahrungen der Vergangenheit jedoch eher anderes befürchten: schon morgen werden in Sachsen-Anhalt und anderswo die Ermittlungen gegen rechtsradikale Schläger wieder genauso schlampig, gelangweilt und mit fremdenfeindlicher Skepsis durchgeführt werden wie bisher. Und der nächste Molotowcocktail auf eine Asylunterkunft wird wieder nur eine Kurzmeldung sein. Das könnte die aufrichtige Empörung von Halle ungewollt zum rassistischen Bumerang machen: zum Zeichen, daß es hierzulande eine Hierarchie der Opfer gibt. Über deren Rangfolge auf der Skala menschlicher Wertigkeiten entscheiden Hautfarbe und Nationalität. Vera Gaserow