Siemens zehrt vom Zinssegen

Europas größter Elektrokonzern hat 22 Milliarden auf der hohen Kante / Zinsen verschönern Bilanz; Arbeitsplatzabbau geht weiter / Letzter Sanierungsversuch für Computersparte SNI  ■ Von Erwin Single

Berlin (taz) – Eine Bank kann nichts erschüttern. Das hat sich wohl auch die Vorstandsriege der Siemens AG gedacht, als die in den Sommer- und Herbsttagen eingehenden Nachrichten auf einen deutlich schlechteren Geschäftsverlauf hindeuteten. Erstmals seit sieben Jahren mußten die Herren nämlich mit ansehen, wie der Auftragseingang des größten Elektrokonzerns Europas zurückging – wenn auch nur um ein Prozent. Für den Siemens-Konzern, der wegen seiner immensen Bestände an Cash und Wertpapieren an der Börse noch immer als Bank mit angeschlossener Elektroabteilung bespottet wird, ist das freilich kein Problem. Sinkende Erträge werden durch den alljährlichen Zinssegen der Vermögensbestände leicht wettgemacht. Das gestern für das Geschäftsjahr 1992/93 (30. September) präsentierte Ergebnis: In den Kassen klingeln 1,982 Milliarden Mark Gewinn nach Steuern – noch einmal 27 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Allein 2,1 Milliarden Mark aus dem sich auf insgesamt 22 Milliarden Mark belaufenden Anlagekapital hat Siemens abgeschöpft – ohne die Zinsüberschüsse würde der wohl reichste Industriekonzern mit seinen 17 Unternehmensbereichen und über 300 Geschäftsfeldern nicht einmal ein Drittel verdienen.

Möglich gemacht hat die Gewinnsteigerung diesmal sogar Vater Staat: Nach einem Rückgang vor Steuern von 3,197 auf 2,912 Milliarden Mark sorgten geringere Abgaben an den Fiskus für den Anstieg. Da fehlt nur noch das Dankeschön an die Koalitionäre von FDP, CDU und CSU, die mit ihrer Unternehmensteuerreform weiter mithelfen, daß, wer genug Geld, noch reicher werden darf.

Zwar konnte der Konzernumsatz wegen der hohen Auftragsbestände noch einmal um vier Prozent auf 81,65 Milliarden Mark gesteigert werden. Doch die fetten Jahre sind auch für den zweitgrößten deutschen Industriekonzern vorbei, wie das sorgenvollen Stirnrunzeln des Siemens-Chefs Heinrich von Pierer unschwer verrät. Der Weltelektromarkt stagniert, die Konkurenz bei den Kommunikationssystemem wächst, und die Paradesparte Öffentliche Kommunikationsnetze, die dank staatlicher Aufträge jahrelang den Großteil der Gewinne im operativen Bereich lieferte, muß weitere Rückschläge hinnehmen. Mit Halbleitern und Computern konnte Siemens ohnehin noch nie einen Blumentopf gewinnen. Der inlandslastige Riese, der immer noch zum weltgrößten Elektrokonzern und Global Player aufsteigen möchte, kann nicht mehr wie früher expandieren; zudem wird er zunehmend von hausinternen Strukturproblemen heimgesucht. So begannen die Vorständler bereits mit dem Aufräumen. Angesichts der Rezession sollen dreistellige Millionenbeträge eingespart und mindestens 15.000 Arbeitsplätze gestrichen werden. Im letzten Geschäftsjahr kappten die Personalschefs weltweit bereits 22.000 Stellen und senkten die Beschäftigtenzahl auf 391.000. Pierers Ziel: Die Rentabilität des Konzerns drastisch zu erhöhen.

Erste Priorität hat dabei die Sanierung der tiefrote Zahlen liefernden Siemens Nixdorf Informationssysteme AG (SNI). Pierer präsentierte mit dem international erfahrenen ABB-Vorstand Gerhard Schulmeyer gleich einen neuen SNI-Chef, der Hans-Dieter Wiedig Anfang Oktober 1994 ablösen soll. Wiedig war es nicht gelungen, das Unternehmen aus der Verlustzone zu bringen. Daß die Geduld mit SNI als dem größten Verlustbringer Grenzen hat, machte von Pierer gestern erneut deutlich: Die Computersparte müsse innerhalb von zwei Jahren die Gewinnzone erreichen. Seit der Übernahme der Nixdorf Computer AG 1990 und dem Zusammenschluß mit dem ehemaligen Siemens-Geschäftsbereich Datentechnik summierten sich die Verluste auf über 1,7 Milliarden Mark. Im vergangenen Geschäftsjahr 1992/93 fuhr SNI bei einem Umsatzrückgang um neun Prozent auf 11,9 Milliarden Mark einen Verlust von 419 Millionen Mark ein. Branchenexperten indes halten die Produktivitätssteigerungen durch massiven Personalabbau und die Umstrukturierung im Wettlauf mit dem hohen Preisverfall und der wachsenden Konkurrenz für keineswegs ausreichend. Der SNI fehle es in fast allen Produktsegmenten an kritischer Masse, um sich langfristig am internationalen Computermarkt zu behaupten.