Union dorrt Europas Obstgärten aus

Die „Gräfin von Paris“ und die „Forellenbirne“ sind im Zeitalter von genormtem Obst so gut wie vergessen: Statt dessen wird der „Jonagold“ – grün und unreif – subventioniert  ■ Aus Hasselt Klaus Haas

Vor einem knappen Jahrzehnt entdeckte die belgische Obstindustrie eine Goldgrube: einen faustgroßen Apfel, der erst auf dem Obstregal des Supermarkts reift und dabei appetitlich rote Bäckchen kriegt. Knackig schmeckt er, saftig ist er, vor allem aber makellos im Outfit und garantiert ohne Wurmstich. Jonagold. So heißt die Barbie-Puppe unter den neuzeitlichen Äpfeln.

Der Jonagold wächst mit Vorliebe in großflächigen Monokulturen an nur knapp zwei Meter hohen, leicht zu erntenden Tiefstammbäumen und wird mit viel Chemie auf Standard getrimmt, bevor er grün und unreif in die EU- subventionierten Kühlhäuser eingeliefert wird. Bei der Kundschaft kommt der laut Eigenwerbung „unwiderstehlich leckere“ Jonagold gut an – er ist einer der Exportschlager der belgischen Obstbauern. Sein Erfolg rührt vielleicht auch daher, daß den Geschmacksnerven die Vergleichsmöglichkeiten abhanden gekommen sind.

Vor einigen Wochen haben kleine belgische und französische Bauerninitiativen in Zusammenarbeit mit grünen Europa-Abgeordneten unter der Glaskuppel im alten Botanischen Garten in Brüssel vorgeführt, was es sonst noch geben könnte, wenn die europäische Agrarpolitik nicht alles vereinheitlichen würde. Hunderte verschiedener Äpfel, Tomaten, Beeren und Nüsse wurden dort zum Anschauen, zum Riechen und zum Probieren herumgereicht. Die Besucher waren begeistert.

Denn wo findet man schon heute noch „Zimmers Frühzwetschge“, eine große blau-violette Pflaume mit saftigem und zuckersüßem Fruchtfleisch, eine „Tragedie“, eine mittelgroße pur- purfarbene und etwas herbere Pflaume, oder die „Reine Claude d'Oullins“, eine echte Königin mit rötlich punktierter Haut auf der Seite, die während des Wachsens der Sonne zugewandt war?

Äpfel gab es früher in unzähligen Varianten. Aber wer kennt heute noch die „Goldfrenette von Blenheim“, den großen goldgelben Apfel mit feinen rötlichen Streifen? Der süß-saure Geschmack entfaltet im Mund ein feines Nußaroma. Der „Freiherr von Berleps“ mit seinem Weinton ist besonders reich an Vitamin C, der grünlich-rote „Court Pendu plat“ erinnert an Anis, und „Ananas Renette“ schmeckt, wie der Name schon vermuten läßt, nicht nur sehr saftig, sondern auch nach Ananas.

Bereits ab Juli kann der „Klarapfel“ geerntet werden, der im heißen Sommer mit seiner erfrischenden Säure genau das Richtige ist. Von besonderer Raffinesse sind auch der nach Veilchen und Himbeeren duftende „Kaiser Alexander“ – im 17. Jahrhundert aus der Moskauer Region hier eingeführt –, der „Apfel von Croncelles“, der „Goldparmane“ oder die karminrote „Sternrenette“ mit ihren grauen Punkten. Vorbei sind die Zeiten, wo ein Apfel noch „Ruhm von Flandern“ oder „Sans pareil“ (zu deutsch: sucht Seinesgleichen) getauft wurde, und das auch noch zu recht.

Bei den Birnen war das Angebot einst einmal mindestens genauso groß: „Gräfin von Paris“, „Clapp's Liebling“, „Boses Flaschenbirne“, die ausgesprochen angenehm riechende „Gute Louise“, oder die „Forellenbirne“, die regelrecht im Mund wegschmilzt. Alle diese Sorten sind weitgehend verschwunden. Teils sind sie nicht konkurrenzfähig, weil sie auf hohen Bäumen wachsen und deshalb umständlich zu ernten sind, teils entsprechen sie nicht der zugelassenen Norm der Europäischen Union, weil sie zu klein, zu ungleichmäßig oder zu wenig glatt sind oder vielleicht sogar gelegentlich einen Wurm beherbergen, was nach Ansicht der EU dank Chemie heutzutage nicht mehr passieren darf.

„Die meisten Früchte, die sie hier sehen“, meint ein junger Bauer im Brüsseler Botanischen Garten, „die können Sie nicht mehr kaufen – kaufen können Sie allenfalls den Baum, an dem der ,Ruhm von Flandern‘ wächst.“ Außer in einigen alten Hausgärten wachsen sie nur noch in Forschungsanstalten und Zuchtgärten. Oder auf den weitverstreuten 75 Hektar der „Nationale Boomgaarden Stichting“ von Ludo Royen: Mitte der achtziger Jahre wollte Ludo Royen nicht mehr einfach zuschauen, wie die belgische Obstvielfalt wegstirbt, um dem Jonagold und seinen wenigen Geschwistern Platz zu machen, und gründete die „Nationale Obstgartenstiftung“, die sich inzwischen in ganz Belgien, aber auch in den Niederlanden und in Deutschland für den Erhalt verkommener Obstgärten einsetzt.

Von den Mitgliedern der Stiftung werden zur Zeit insgesamt rund 75 Hektar mit alten, oft schon vergessenen Obstbäumen verwaltet und gepflegt. Mehr als 3.000 typische und wertvolle Äpfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschensorten wachsen in diesen aussterbenden Paradiesen. Die Setzlinge können von LiebhaberInnen gekauft werden. Wer selbst keinen Obstgarten anlegen will, der frühestens den Enkeln Freude machen wird, kann bei der Stiftung auch eine Patenschaft für einen der Obstbäume übernehmen. Nicht selten, so erzählt Ludo Royen, reisten Pate oder Patin dann regelmäßig höchstpersönlich an, um die ersten Früchte ihrer Schützlinge selbst zu pflücken.