Der Wirtschaft geht's gut, dem Volk geht's schlecht

■ Brasiliens Wirtschaft wächst trotz anhaltender politischer Krise um sechs Prozent

Rio de Janeiro (taz) – 35 Prozent Inflation im Monat, 120 Milliarden Dollar Auslandsschulden, vier verschiedene Wirtschaftsminister und ein verheerender Korruptionsskandal. Dies ist die Bilanz der brasilianischen Wirtschaft vom vergangenen Jahr. Dennoch liegt die zehntgrößte Industrienation nicht am Boden, ganz im Gegenteil: Angetrieben von der Automobilindustrie wuchs die brasilianische Wirtschaft 1993 um satte sechs Prozent. Ausländische Investitionen, im Jahr 1986 auf den Tiefststand von 307 Millionen Dollar gesunken, haben bereits wieder die Zwei-Milliarden-Dollar- Grenze überschritten.

„Brasilien hat keine wirtschaftlichen Probleme“, behauptet Planungsminister Alexis Stepanenko. Lediglich die Finanzverwaltung lasse zu wünschen übrig. „Der Regierung und dem Volk geht's schlecht, doch der private Sektor floriert“, erklärt der Minister.

Von dem Erfolg der brasilianischen Automobilindustrie kann die krisengeschüttelte Branche in Europa nur träumen. Nach Angaben der brasilianischen Vereinigung der Automobilindustrie, Anfavea, wird die Branche in diesem Jahr mit 1,3 Millionen Autos einen Produktionsrekord aufstellen. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden knapp 800.000 Fahrzeuge verkauft, das sind 45 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

„Brasilien ist für uns die beste Investitionsanlage“, schwärmt Silvano Valentino, Direktor von Fiat in Brasilien. Das Modell Fiat Uno des italienischen Autokonzerns ist das meistverkaufte Auto in Brasilien.

„Die Krise Brasiliens ist im politischen Bereich, die Wirtschaft hat die Rezession schon überwunden“, erklärt der Konzernchef. Bis 1996, so versichert er, werde der Konzern pro Jahr 250 Millionen Dollar in Brasilien investieren.

Nicht nur die Automobilbranche boomt. Nach Angaben des internationalen Marktforschungsunternehmens „Price Waterhouse“ wuchsen die Geschäfte der 500 größten brasilianischen Unternehmen 1993 im Vergleich zum Vorjahr um 17,5 Prozent. In der Autobranche wurde der Wachstumsschub durch Steuersenkungen ausgelöst, die zu einer erheblichen Preisreduktion führten. Die Lohnpolitik der brasilianischen Regierung, nach der die Gehälter alle vier Monate an die Inflation angeglichen werden müssen, verbesserte die Kaufkraft der Bevölkerung. Die noch unter Ex-Präsident Fernando Collor begonnene Marktöffnung erleichterte zudem die Kreditaufnahme im Ausland: brasilianische Firmen können so vor den extrem hohen Zinsen im Inland fliehen.

„Ausländische Investoren schauen sich die Firmenbilanzen an, nicht die politische Situation des Landes“, erklärt Julius Buchenrode, Direktor der Investitionsabteilung der Bank „Chase Manhattan“, die über zwei Milliarden US-Dollar ausländische Investitionen verwaltet. In anderen Ländern Lateinamerikas würde zuerst die Regierung für makroökonomische Stabilität sorgen, und danach die Unternehmen den Kurs fortsetzen. „In Brasilien“, so Buchenrode, „passiert genau das Gegenteil“.

Auch Peter West, Wirtschaftsberater der „West Merchant Bank“, sieht in der Inflation kein Hindernis für Investitionen: „Trotz der Instabilität hält Brasilien seine Zahlungsbilanz aufrecht und verfügt über Auslandsreserven von 23 Milliarden Dollar.“ Die aufgrund der Inflation hochgetriebenen Zinsen würden Kapitalanlegern eine stattliche Rendite einbringen.

Im Gegensatz zur Euphorie multinationaler Firmen wie Shell, Xerox, Nestle oder Fiat halten sich die deutschen Unternehmen in Brasilien eher bedeckt. „Die Investitionen werden auf kleiner Flamme gefahren“, verlautet es aus der deutsch-brasilianischen Handelskammer in Sao Paulo. Zwar sei die Rezession überwunden, doch die unsicheren Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Benachteiligung ausländischen Kapitals bei öffentlichen Ausschreibungen, seien investitionshemmend. In einem jedoch stimmen die Deutschen mit den übrigen Vertretern ausländischen Kapitals überein: „Die krisenerprobte brasilianische Wirtschaft funktioniert am besten alleine.“ Astrid Prange