„Ein kleines Stück Gleichstellung“

■ Ingrid Witte als zweite Dompredigerin ins Amt eingeführt / Altherrenriege hält sich nun für „fast schon avantgardistisch“

Einige hundert Jahre hat der Anlauf gedauert, aber jetzt geht es Schlag auf Schlag. Nachdem im vergangenen Jahr mit Babett Flügger die erste Frau in der Geschichte des Bremer Doms zur Pastorin gewählt wurde, folgte ihr gestern mit Ingrid Witte schon die zweite. „Mit zwei Dompredigerinnen sind wir jetzt schon fast avantgardistisch“, hieb sich denn auch Pastor Daugelat in der Amtseinführung seiner neuen Kollegin vor einigen hundert Besucherinnen des Sonntags-Gottesdienstes gleich selber kräftig auf die Schulter.

Soviel Fortschrittlichkeit auf einmal hat er seinen Gemeindegremien offenbar selber kaum zugetraut. „Es ist nicht selbstverständlich, daß eine Frau kommt“, sagte er, „da waren bei aller Liberalität sehr gegensätzliche Meinungen vorhanden.“ Gewählt wurde Ingrid Witte dann aber mit „sehr großer Mehrheit“. Daugelat: „Sie werden wie ein kleines Stück Gleichstellung wirken.“

Nach Erduldung dieses zweifelhaften Segens des Patriarchen durfte die neue Predigerin zum ersten Mal in der vollen Würde ihres Amtes die Domkanzel besteigen und den „Zauber des Anfangs“ proben, von den Daugelat zuvor versprochen hatte. Doch zumindest an ihrem ersten Sonntag hat die neue Dompredigerin davon nichts spüren lassen.

Ihre Predigt behandelte, na was wohl, die Liebe, „die am häufigsten gestellte Frage der Welt“. Und für Moses, der im 2. Buch, Kapitel 33, seinen Gott doch so furchtbar gern zumindest ein einziges Mal gesehen hätte, um sich seiner Liebe auf ewig zu vergewissern, hat sie einen mütterlichen Rat: „Vergiß es, Liebe läßt sich nicht beweisen.“ Witte, das war am Sonntag zu erfahren, hält es da lieber mit Antoine de Saint-Exupéry: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Nein, gegen diese Sorte der „Avantgarde“ hat auch die führende Altherrenriege der Domgemeinde nichts einzuwenden. Wer schon am Sonntag so freundlich und im verbindlichsten Tonfall an die Faktenlage erinnert, von dem wird auch am Montag kein Streit zu erwarten sein. Und wem die Leidenschaft eines einsamen Mose auf dem Berge Sinai so völlig fremd ist, der wird auch mit dem gewinnensten Lächeln keinen Maulwurfshügel versetzen.

Ja, so lieben die Herren ihr „kleines Stück Gleichstellung.“ Und völlig gerührt sind sie, wenn das dann auch noch – wie Ingrid Witte – ohne mit der Wimper zu zucken mitsingt, wenn es im Kirchenliederbuch heißt: „Herr, wir preisen deine Stärke.“ Dirk Asendorpf