Die Avantgarde als Erstausgabe

■ Aufzeichnungen über das Antiquarsein, die rauhen Seiten eines Traumberufs und ein kleines bißchen Sucht

Würden Sie das „Antiquariat Beim Steinernen Kreuz“ just in diesem Augenblick betreten – Sie sähen den König der Erstausgaben womöglich auf Knien am Boden rutschen. Ihn, den Udo Seinsoth, oder seine Frau Brigitte. Die täte es dem Ehemann allerdings nur zum kollegialen Gefallen – denn ihr eigentliches Metier ist die Kunstgalerie im ersten Stock.

Antiquariat und Galerie haben einen gemeinsamen Ursprung: „So etwas wie die Idee vom Gesamtkunstwerk“, sagt Seinsoth. Und wiegelt gleich ab: „Aber das klingt ja viel zu großartig.“

Jetzt, im Januar, ist der Gemeinsinn der Seinsoths verschärft gefordert. Mit der Anlieferung ihrer frischgedruckten Sortimentskataloge bricht „fast die schlimmste Zeit des Jahres“ heran. Dann packen die beiden das dünne Heftchen mit den 12.000 Titeln, die zum Verkauf stehen, in Kisten und Kästen.

Es handelt sich um die vierundzwanzigste Generation des Kataloges. „Dieses Mal vor allem Surrealismus und Literatur nach 45“. Mit wechselnden Schwerpunkten begeistert der Antiquar sich und seine Kundschaft für das Buch: „Mich interessieren vor allem die Ismusse“ und darunter wieder die Erstausgaben.

Im gesamten Bundesgebiet und im Ausland kauft er dafür ganze Bibliotheken auf. Allerdings nur, wenn der Verkäufer darauf besteht. Denn für gewöhnlich ist nur ein Bruchteil von tausend angebotenen Büchern für ihn brauchbar. „Von 5000 vielleicht 200, wenn die Bibliothek gepflegt ist.“

Gegen die Überbleibsel aus solchen Einkäufen ertauscht er sich von Kollegen Literatur für den eigenen Bestand.

Das Herbei- und Herumschleppen von Büchern wie Katalogen, das Etikettieren und der Versand an KundInnen, HändlerInnen und Interessierte in der ganzen Republik, das sind die rauheren Seiten des Antiquarberufes.

Über die allerdings mag Seinsoth nicht so recht sprechen: Er ist eher ein Mann der leisen Töne – und im übrigen habe er seinen Traumberuf ergriffen. Daß er ein Sammler ist und ein wenig pingelig, das sagt er auch. Und gibt zu, daß seine Leidenschaft für's Buch an Sucht grenzt. Ähnliches wüßte er von manchen Kunden zu berichten, umso besser kann er sie verstehen. Aber in der Presse muß das nicht ausgewalzt werden – der Feinsinn läßt den Geschäftsmann schweigen.

Den direkten Weg zum Unternehmer in Sachen wertvolle Bücher ist der heutige Antiquar jedoch nicht gegangen – wenn auch der Hang zum Buch schon immer da war. Er blickt zurück auf ein Elternhaus, dessen Bücherleere er schon als Jugendlicher füllen wollte. „Ich mußte jedes Buch besitzen“.

Erst ein Berufsverbot, das dem studierten Ingenieur für Vermessungstechnik die geplante Laufbahn als Handelslehrer durchkreuzte, brachte den alten 68er dazu, aus dem Hobby einen Beruf zu machen. „Heute möchte ich mit niemandem tauschen“, sagt er. Trotzdem sei am Berufsverbot nichts Gutes zu finden – „nur weil ich meine Erfüllung gefunden habe. Außerdem verwischt im Rückblick manches.“

Schon in seiner vorbremischen Zeit verkaufte Seinsoth manchmal Bücher aus der Privatwohnung heraus. Wenn er heute danach gefragt wird, lacht er: „Berlin, dritter Stock, fragen Sie nicht nach Sonnenschein.“ Zu Gedeih und beruflicher Blüte gelangte der Sammlungsbestand mit den ersten Bremer Jahren. Und mit ihm wuchs auch der Ruhm des Antiquariats, den Udo Seinsoth bescheiden „Ruf“ nennt. Seine Vorliebe für schräge Themen hat ihm dazu verholfen: „Die 20er Jahre. Dada. Kunst und Literatur. Benjamin, Kafka, Pinkus. Sowas ist immer dabei.“

Der ungebeugte Wille, sich nicht reinreden zu lassen und nur zu verkaufen, was ihn selbst interessiert, ist Seinsoths Verdienst in jeder Hinsicht: „Als ich 1982 einen Katalog mit Konkreter Poesie gemacht habe, dachte niemand, daß man das verkaufen könnte“. Neue Moderne, Fluxus, Konkrete Poesie – Avantgarde galt als riskant. Dabei war der Katalogbestand damals im Nu ausverkauft.

Heute macht Seinsoth über 60 Prozent seines Umsatzes dank Katalog und Kölner Fachmesse, das ist fast doppelt so viel wie bei den Kollegen. Darauf ist er stolz: „Man macht einen vernünftigen Preis“. Fairness ist das betriebswirtschaftliche Erfolgsgeheimnis. Es gründet auch auf dem Rat von Kollegen: „Das schnelle Geschäft ist nicht mehr möglich.“ Und: „Jedes Buch hat seinen Wert. Quäl dich lieber damit.“

Diese Tips gibt er heute schon selbst weiter: „Es ist ein bißchen wie: Der alte Großvater erzählt.“ Und er tut es gerne, und ja, es schmeichelt ihm. Wie auch die Tatsache, daß er zur internationalen Messe 1992 nach Köln eingeladen wurde: „Als einer von den zweihundert weltweit bedeutendsten Antiquaren.“

Die Seinsoths haben seit dem Umzug nach Bremen viel „kulturelles Ödland“ beackert. „Man darf nicht jammern, man muß handeln.“ Das taten sie: Waren unter den GründerInnen der Gesellschaft für Aktuelle Kunst. Förderten das Neue Museum Weserburg. Stellen Kunst in der eigenen Galerie aus: „Alles Gegenwart“. Und laden zu Lesungen ein. Davon haben mittlerweile so viele stattgefunden, daß die literarischen Namen kreuz und quer fliegen, wenn Udo und Brigitte Seinsoth sich erinnern.

Und ein neuer Schwall folgt, wenn sie von der Zukunft sprechen. Kein Wunder, daß sich die Großen und Kleinen der zeitgenössischen Kunst und Literatur bei ihnen versammeln – „auch als Freunde“.

Nur ein einziges Mal griff Udo Seinsoth bisher selbst zur Feder; eine Festschrift zum fünfzigsten Todestag seines „Leib- und Magenautors“ Rolf Dieter Brinkmann ist herausgekommen: „Mein Lebenswerk.“ Und andere Projekte? Nein, die hat er noch nicht: „Das kommt nicht einfach so.“ Eva Rhode