Moskau: Einer drängt sich vor

In Rußland gehen die Diskussionen über die Regierungsbildung weiter: Nun will Grigori Jawlinski Premierminister werden  ■ Von Klaus-Helge Donath und Sabine Herre

Moskau/Berlin (taz) – Das zähe Ringen um die Regierungsumbildung in Moskau hat es gezeigt: Die Zeit enthusiastischer Reformmaßnahmen ist erst einmal vorbei. Mit dem Rücktritt des ersten stellvertretenden Premiers Jegor Gaidar verließ der Architekt des russischen Aufbruchs die politische Schaltzentrale. Was jedoch danach kommen wird, scheint nicht einmal Finanzminister Boris Fjodorow klar zu sein: Nachdem die Nachrichtenagenturen am Dienstag seine Demission gemeldet hatten, kündigte er gestern seinen Verbleib im Kabinett Tschernomyrdin an. „Ich habe meinen Rücktritt nicht erklärt und werde es auch nicht tun, wenn die Regierungspolitik sich nicht so ändert, daß dies das Ende der Reformen bedeutet.“

Die Nachfolger der beiden Reformer stehen schon bereit. Von Gaidar selbst ins Gespräch gebracht wurde Grigori Jawlinski, Führer des Wahlblocks „Jabloko“. Doch dem bekannten Ökonomen genügt ein Ministeramt nicht. Er will, so erklärte er gestern ohne falsche Bescheidenheit, Premierminister werden, führende russische Politiker und Wirtschaftsvertreter würden seine Kandidatur mittragen. Einzige Bedingung: Präsident Jelzin dürfe sich nicht in die Regierungsbildung einmischen. Und obwohl Jawlinski den monetaristischen Kurs der „Schocktherapeuten“ stets kritisierte, scheint er nun bereit, mit Gaidar und Fjodorow zusammenzuarbeiten.

Die von Jawlinski gestern angekündigten „schnellen Notmaßnahmen“ gegen den völligen Zusammenbruch der russischen Wirtschaft dürften von den beiden Reformern jedoch kaum mitgetragen werden. Verbirgt sich hinter ihnen doch nicht viel mehr als ein Öffnen der staatlichen Gießkanne: Durch Subventionszahlungen sollen die Staatsbetriebe vor einem Bankrott bewahrt werden.

Da sich Jawlinskis Konzept somit jedoch auch nicht wesentlich von dem des jetzigen Premiers Wiktor Tschernomyrdin unterscheidet, wird hinter den vollmundigen Erklärungen des Jabloko- Chefs deutlich, daß es ihm weniger um die russische Wirtschaft als um die eigene Macht geht. Bisher hatte man freilich stets angenommen, daß Jawlinski auf den Posten von Präsident Jelzin spekuliert.

Unterdessen scheint der russische Präsident bereit, eine Veränderung des Wirtschaftskonzepts mitzutragen, ringt mit Tschernomyrdin jedoch noch um den Grad der Änderungen. Premier Tschernomyrdin selbst gelang es in den letzten Tagen, sich als der neue „starke Mann“ Rußlands zu präsentieren. Da er auch die Unterstützung der zentristischen Parteien hat, scheint es fraglich, ob Jawlinski mit seinem gestrigen Vorstoß durchkommt.

Tschernomyrdin zählt nicht zu den Reformgegnern. Er vertritt nur eine andere Linie und fühlt sich den Direktoren der alten Staatsbetriebe über Gebühr verpflichtet. Mehrfach kam es in den zurückliegenden Monaten mit Gaidar und Fjodorow zu harschen Auseinandersetzungen. Sie versuchten die permissive Kreditpolitik der russischen Zentralbank zu unterbinden, während Tschernomyrdin Subventionen in großem Maßstab für die maroden und bankrotten Unternehmen forderte. Die bequeme Subventionspolitik entband die alten Direktoren vom Umdenken und von der überfälligen Umrüstung ihrer meist unbrauchbaren Produktpalette.

Tschernomyrdins Klage galt von Anfang an der sinkenden Produktion. In der Tat hat der Produktausstoß in den letzten drei Jahren um 38 Prozent abgenommen. Die verheerende Statistik täuscht hingegen. Unternehmen, deren Produkte mit Westwaren konkurrieren können, legten in der Produktion sogar zu. Kühlschränke und Fernseher wurden mehr produziert und gekauft als je zuvor. Die Herstellung von Videorecordern und Schuhen fiel dagegen drastisch. Kein Wunder, denn ihre Qualität ist mangelhaft. Der russische Konsument greift da lieber auf Westprodukte zurück. Dem könnte die neue Politik durch Einfuhrbarrieren einen Riegel vorschieben. Einerseits um den unwirtschaftlichen Betrieben zu helfen, andererseits um die Inflation einzudämmen.

Rußlands Ökonomie droht die „Ukrainisierung“

Kolossale Einbrüche mußten auch Schwerindustrie und Maschinenbau hinnehmen. Ihre Fabrikate haben jedoch die Eigenschaft, dem Endprodukt mehr Wert abzuziehen als hinzuzufügen. Daher gilt: Je weniger sie produzieren, desto positiver wirkt es sich auf die Volkswirtschaft aus. Zumal sie ungeheure Mengen Energie einsparen. Obwohl die Ölförderung um zwölf Prozent im Vorjahr sank, konnte der Export um 21 Prozent zulegen. Insgesamt erwirtschaftete der staatliche Sektor einen Außenhandelsüberschuß von 20 Milliarden Dollar. Wohlgemerkt – ohne die privaten Unternehmen. Die Mittel reichen aus, um den Import von Konsumgütern zu finanzieren. Die Kritiker der Importpolitik befürchten, Rußland könnte vom Industriestaat zu einem Rohstofflieferanten degradiert werden. Aber gerade protektionistische Maßnahmen fördern diese Entwicklung. Rußland droht eine „Ukrainisierung“ seiner Wirtschaft. 50 Prozent des Sozialproduktes werden dort am Staat vorbeigeschafft. Schwarz- und Schattenwirtschaft haben das Regiment übernommen.

Unterhalb der makroökonomischen Ebene lassen sich die bereits vollzogenen Strukturmaßnahmen nicht mehr rückgängig machen. Die Privatwirtschaft hat Fuß gefaßt. In Umfragen des renommierten Gesamtrussischen Meinungsforschungsinstituts sprachen sich rund 40 Prozent der Befragten für ein privatwirtschaftliches System aus, knapp 33 bevorzugten noch staatliche Planung. Dagegen hielt fast die Hälfte die Fortsetzung wirtschaftlicher Reformen für unumgänglich. Hierin besteht eine Garantie, daß Rußland längerfristig den Weg in Richtung Marktwirtschaft beschreitet.