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Es brüllt von den Wänden

■ Plakatkunst-Schau im Museum für Kunst und Gewerbe

Ein seltsames Fieber verbreitete sich einst in Europa. Die „Affichomanie“ griff in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Städten um sich und infizierte Künstler, Werber, Theater- und Konzertveranstalter mit der Plakatsucht. Hamburgs Wände waren tapeziert mit den riesigen bunten Werken aus der Druckerei Adolph Friedländer, die für Theater, Zirkus oder Hagenbecks Völkerschauen warben. Die technischen Voraussetzungen, großformatige Papierbogen vielfarbig zu bedrucken, waren reif geworden für die „Kunst der Straße“, die das ästhetische Empfinden der Passanten im Vorübergehen schulen - und wie man damals meinte, damit nebenbei auch die Moral heben - sollte.

1889 wurde in Hamburg bereits Justus Brinckmann, der erste Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, von dem Fieber befallen, und er begann die großen Zettel, die üblicherweise, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatten, in den Müll wanderten, zu sammeln. 105 Jahre später zählt der heutige Direktor Wilhelm Hornborstel die Hamburger Plakatsammlung zu den „zehn bedeutentsten der Welt“. Ab heute zeigt die Ausstellung Plakatkunst von Toulouse-Lautrec bis Benetton im Museum für Kunst und Gewerbe 315 Plakate - Lithografien, Holzschnitte, Schablonen-, Offset- und Siebdrucke - aus über hundert Jahren bis heute. Ausgesucht hat sie der ebenfalls leicht Affichomanie-infizierte Jürgen Döring, der Leiter der grafischen Abteilung des Museums, aus den über 100.000 Plakaten im Besitz des Museums.

Chronologisch führt die Ausstellung über zwei Etagen durch die Entwicklung der Plakatkunst, die zu einfachen Vergnügungen lockt, politisch agitiert oder Produkte anpreist. Sie wird durch die vielfältigen Themen und Formen für den Betrachter zum Spaziergang durch ein Jahrhundert - und je mehr man sich der heutigen Zeit nähert, um so verwirrender wird das Kaleidoskop der angeschlagenen Informationen. Mit vielen Exponaten lassen sich Assoziationen verbinden wie mit alten Schlagern, angefangen bei Toulouse-Lautrecs Plakat für den Chansonnier Aristide Bruant, über die aufgetürmten Hände, die 1973 für das Berliner Jazz-Fest warben, bis hin zu der mit zwei Phalli gehörnten Glatze, die das Publikum 1989 in Panizzas Drama Das Liebeskonzil locken sollte und heute an die rar gesäten Skandale des inzwischen eingemotteten Berliner Schillertheaters erinnert.

Plakate standen stets an der Schwelle zwischen Gebrauchskunst und freier Kunst, ein Aspekt, auf den Ausstellungsmacher Döring besonderen Wert legte. Zu den frühen klassischen „Künstlerplakaten“ gehören die Werke der 1905 in Dresden gegründeten „Brücke“. Ernst Ludwig Kirchner gestaltete 1910 einen Holzschnitt für eine Ausstellung der Werke Paul Gaugins, Erich Heckel bewarb mit einem Holzschnitt eine Hofkunsthandlung in Oldenburg.

Doch künstlerische Qualitäten lassen sich lassen sich auch in den gezeigten Gebrauchskunstwerken entdecken - bis hin zu den postmodernen computermanipulierten Drucken oder den dokumentarischen und provokanten Plakaten des Fotografen und Benetton-Werbe-Chefs Oliviero Toscani.

So wie es aussieht, steht Hamburg wieder eine Affichomanie-Welle ins Haus.

Julia Kossmann

Museum für Kunst und Gewerbe, bis 30. März, Katalog: 49,80 Mark, Zeitschrift „Plakat Journal“: 15 Mark

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