Die Mathematik des Todes

Wie soll man eines Tages erklären, warum es den Weltmächten nicht gelang, einem Psychopathen in den Arm zu fallen? Und wer wird in Sarajevo noch leben, um die Erklärung zu hören?  ■ Von Peter Schneider

Die Toten von Sarajevo erobern Meter für Meter die Stadt. Auf den Friedhöfen ist kein Platz mehr. Die Lebenden haben die Kinderspielplätze, die Parks, das Fußballstadion geräumt und dort ihren Toten Platz gemacht. Das Fußballstadion, nahe der Olympiaanlage, ist zu drei Vierteln mit Gräbern bedeckt. Die Lebenden sagen, es wird bald überfüllt sein.

Die Mathematik des Todes gehorcht einer simplen Hochrechnung: Seit Jahresbeginn hat das aus vielen hundert Rohren speiende Ungeheuer auf den Bergen, das täglich Menschenopfer fordert, zirka 200 Bürger der Stadt vernichtet. Drei- bis viermal so viele wurden verletzt. Der Ausdruck „verletzt“ muß erklärt werden: Er meint selten Wunden, die geheilt werden können. Im Regelfall zerschmetterte Hüften, zerfetzte Arme und Beine, abgetrennte Finger und Hände. Wenn es so weitergeht – und nach Meinung aller, die ich sprach, wird es auf absehbare Zeit so weitergehen –, macht das im Jahr 3.000 bis 5.000 Tote, drei- bis viermal so viele Verletzte.

Wohin mit all den Toten? In den städtischen Parks, deren Bäume längst verheizt worden sind, sieht man überall schmucklose, in den Boden gerammte Pfähle. Inzwischen dringen die Toten weiter vor, ins asphaltierte Stadtzentrum. Sie besetzen den Vorgarten vor dem Bürgerhaus, das Rasenstück neben der Garage, die öffentlichen Plätze. Selbst an den Totenfeiern können die Lebenden nur unter Todesgefahr teilnehmen. Offene Räume sind für die Snipers Übungsplätze, an denen sie ihre Zielfernrohre testen – am lebenden, am rennenden Objekt.

Für einen Volltreffer, so erzählen die Leute, gibt es zwischen 400 und 500 DM Prämie. Jeweils zehn der Trauernden rennen zu dem ausgehobenen Grab, murmeln hastig ihren letzten Gruß, werfen ihre Blumen auf das Grab, rennen zurück, um der nächsten Zehnergruppe Platz zu machen. Einen er sichersten, gleichzeitig gefährlichsten Arbeitsplätze in der Stadt haben die Totengräber. Ein Totengräber hebt am Tag 1,30 Kubikmeter aus, und der Bedarf steigt. Da er im offenen Raum arbeiten muß, ist er ständig im Visier der Zielfernrohre. Seit Beginn des Krieges hat der Drache auf den Bergen – nach Angaben der Einwohner – etwa 10.000 Menschen verschlungen, darunter 2.000 Kinder.

In Sarajevo ist der Reporter den Ereignissen in mancher Hinsicht ferner als vor dem Fernseher zuhause. Das Risiko, von einer Granate oder einem Sniper erwischt zu werden, ist allgegenwärtig – es gibt keinen sicheren Platz in der Stadt. Der seltsame Gewinn, den die Nähe verschafft, ist Orientierungslosigkeit. Was der heimische Fernseher leistet und in Sarajevo fehlt, ist die Interpretation der Ereignisse, die Übersicht. Alle paar Minuten sind Detonationen zu hören, Schüsse. Es ist unmöglich zu erraten, aus welcher Richtung sie kommen, ob, wen und wie viele sie treffen, ob man sich ducken oder rennen soll. Das hörbare Fluggeräusch einer Granate vor dem Einschlag dauert drei bis vier Sekunden. In dieser Zeit kann man zehn bis zwanzig Meter laufen, aber in welche Richtung?

Es sind abstrakte Geräusche, an die man sich bereits am ersten Tag gewöhnt, wissend, daß sie für zwei, drei oder fünf Menschen womöglich die letzten waren, die sie hörten – unrhythmischer als Blitz oder Donner, ebenso unbeeinflußbar. Erst einen oder zwei Tage später als die europäischen Fernsehteilnehmer erfährt man hier, wo und wie viele Menschen zerfetzt worden sind. Aber man zählt in Sarajevo anders.

12. Januar 1994. An diesem Tag melden die Nachrichten vier Tote. Am gleichen Tag finden sich an einem Tisch in Sarajevo drei Leute mit anderen zusammen und erzählen. Einer, ein amerikanischer Korrespondent, hat bei seiner Fahrt zu einer Recherche eine junge, von einer Granate zerfetzte Frau gefunden, ein anderer Kollege einen alten Mann tot auf einer Brücke. Eine bosnische Journalistin hört am Telefon, daß ein Verwandter von einem Sniper getötet worden ist. Die drei sind an diesem Tag – zufällig, sagt man wohl – Augen- und Ohrenzeugen von drei Todesfällen geworden – und insgesamt, so fragen sie sich verwundert und nur halb interessiert, sollen es nur vier gewesen sein? Die Nachrichten sind wesentlich fiktiver als die Erlebnisse.

Nicht die Zahl der Toten interessiert in Sarajevo, sondern ihre Namen. Die Politiker und die Zubereiter für die Fernsehnachrichten fragen nach der Quote. Solange es nur fünf oder zehn am Tag sind, so muß das Kalkül wohl lauten, ist die Lage stabil.

Was die Frage des Eingreifens angeht, können sich die Europäer die Anstrengungen des Lügens sparen. Niemand hier in Sarajevo erwartet irgend etwas von den Europäern außer Päckchen. Das ist die Nato, heißt es höhnisch, wenn ein nicht identifizierbares Flugzeug über den Wolken der Stadt zu hören ist. Der Witz ist zu schal und zu alt, als daß er noch zum Lachen reizte. Sie hatten zwei Jahre Zeit, uns zu Hilfe zu kommen. Jetzt wissen wir Bescheid. Wir sind abgeschrieben.

Die entschlossenen Reden der westlichen Staatsoberhäupter auf dem Nato-Gipfel in Brüssel wurden hier nach einem einfachen Schlüssel decodiert. Den Drohungen mit einem „Airstrike“, die der westlichen Presse Schlagzeilen wert waren, fehlte eine Kleinigkeit namens Ultimatum. Die einzige Botschaft aus Brüssel, die in Sarajevo gut vernehmbar wie ein Granateneinschlag vernommen wurde, war das Wörtchen „wenn“. „Wenn Sarajevo von den serbischen Belagerern stranguliert wird, dann wird der Nato-Beschluß vom August 1993 ...“

Wes Magen voll ist, kann wenigstens darüber lachen. Den Conditionalis der Nato-Herren hat der tägliche Terror aus den Bergen über Sarajevo längst ins Perfekt übersetzt. Der Ritter aus der Tafelrunde, der sein Leben riskiert, um den Drachen zu töten – ein vergessenes, ein verlogenes Märchen. Es gibt kein Wasser, kein Licht, fast nichts zu essen, jeder Erwachsene hat zehn bis zwanzig Kilo abgenommen – der fünfzigjährige Koch in der jüdischen Gemeinde ist der dünnste Koch, den ich je sah, er hat das Gewicht eines Knaben. Und jeder weiß, daß Sarajevo, das elende Lieblingskind der internationalen Presse, im Vergleich zu anderen bosnischen Städten wie Mostar, Tuzla, Vitez und namenlosen Dörfern, in denen Menschen längst Hungers sterben und Frauen, Kinder, Greise wegen des Verbrechens, der falschen Ethnie anzugehören, bei lebendigem Leib zerstückelt werden, ein Schlaraffenland ist.

Warum sind die Europäer nicht wenigstens ehrlich? Warum geben sie nicht zu, daß ihnen die Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina nicht das Leben eines einzigen Soldaten wert sind? Darüber, immerhin, ließe sich ja reden, sagen meine Gesprächspartner. Obwohl es nicht ganz einfach sein wird, euren Kindern zu erklären, warum die zwölf oder fünfzehn mächtigsten Nationen der Erde sich außerstande sahen, einem großmäuligen, schlecht ausgerüsteten Psychopathen, der ständig mit dem Dritten Weltkrieg droht, in den Arm zu fallen. Sicher, wahrscheinlich werdet ihr eine Erklärung finden. Weniger wahrscheinlich ist, daß wir diese höchst interessante Erklärung überleben.

Peter Schneider, Autor in Berlin, war für die dänische „Weekendariven“ in Sarajevo.