Reformkurs mit angezogener Handbremse

■ In Rußland wird die neue Regierung von Konservativen dominiert

Moskau (taz) – Nach zähen, tagelangen Auseinandersetzungen zwischen Präsident Jelzin und Premierminister Viktor Tschernomyrdin steht die Zusammensetzung der neuen Regierung in Rußland fest. Tschernomyrdin, der seit den Wahlen erheblichen Einfluß hinzugewonnen hat, setzte gestern alle Kräfte ein, um der Vermutung über einen Kurswechsel entgegenzuwirken: „Den Kurs der Fortsetzung und Vertiefung der Reformen wird die Regierung nicht verlassen.“

Die Ernennungen sprechen dagegen eine andere Sprache. Nachfolger Jegor Gaidars im Wirtschaftsressort wird Alexander Schochin. Er gehörte schon der vorigen Regierung an und gilt als Vertreter eines protektionistischen Kurses, der gleichzeitig eine großzügige Kreditpolitik gegenüber den bankrotten Industrien befürwortete. Erster stellvertretender Premierminister blieb der Technokrat und ehemalige Fabrikdirektor Oleg Soskowez. Im alten Kabinett vertrat er die konservative Seite. Einziger Radikalreformer im Range eines stellvertretenden Vizepremiers aus der alten Mannschaft ist der Privatisierungsminister Anatolij Tschubais. Er muß es noch mit zwei weiteren Vizepremiers konservativer Couleur aufnehmen: mit dem für Landwirtschaft zuständigen Minister Alexander Saverjucha und mit Jurij Jarow.

Gerade an der Person Saverjuchas hatten sich die Geister geschieden. Es sieht so aus, als hinge die Fortsetzung der Reformen indirekt zu einem beträchtlichen Teil von ihm ab. Denn noch ist die Stelle des Finanzministers vakant. Offenkundig hat Jelzin um den Verbleib Fjodorows als Symbol der Reformen bis zuletzt gestritten. Doch Fjodorow hatte zusätzlich mehrere Bedingungen für seinen Verbleib in der Regierung gestellt. Saverjucha, Kolchosdirektor und Lobbyist einer ineffektiven Landwirtschaft, sollte aus dem Kabinett ausscheiden. Tschernomyrdin konnte sich also gegen Jelzin durchsetzen. Gleichzeitig wünschte Fjodorow die Entlassung des Chefs der Zentralbank, Geraschtschenko, der die Politik des noch amtierenden Finanzministers durch großzügige Geldgeschenke konterkarierte. Der Zentralbankchef wird vom Präsidenten ernannt, nicht vom Premier. Daß Jelzin den Zentralbankchef nicht abberief, zeigt, inwieweit er in die Abhängigkeit seines Premiers geraten ist. Es ist offen, ob Fjodorow das Amt auch ohne die Erfüllung seiner Konditionen annimmt. Bleibt er, so wäre ein Dauerkonflikt vorprogrammiert.

Anders als Tschernomyrdin stellte ein Sprecher Jelzins die Vorgänge im Kreml dar. „Die Regierungsumbildung, die derzeit in Moskau vonstatten geht, hat spürbare Auswirkungen auf die Lage nicht nur im Lande, sondern weltweit“, meinte Sergej Filatow Stunden vor Tschernomyrdins offiziellem Auftritt. Er ließ keine Zweifel aufkommen, daß es zwischen Präsident und Premier zu erheblichen Meinungsunterschieden gekommen sein muß: „Wahrscheinlich werden wir jetzt eine sehr harte Krisenperiode überstehen müssen.“ khd

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