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Klimmzüge für Obst und Gemüse

■ Wirtschaftsstadträtin: Kein Notstand / Bezirksamtsstudie: Keine einheitliche Versorgung / Betroffene: Zu hohe Mieten

„Das stimmt nicht“, sagt Jutta Bartels, von der PDS nominierte Wirtschaftsstadträtin in Mitte. Von Lebensmittelnotstand könne überhaupt keine Rede sein. „Allenfalls“ vollziehe sich hier die westdeutsche Entwicklung schneller, „weg von den kleinen Läden, hin zu den großen“. Insgesamt aber, findet sie, „sind die normativen Werte erfüllt“.

0,33 Quadratmeter Einkaufsfläche je Einwohner sind für „Waren des periodischen Bedarfs“ (WpB) als Minimum anzusehen, heißt es in einer Studie des Bezirksamts Mitte. „Periodischer Bedarf“ ist jener nach Nahrungsmitteln, Backwaren, Fleisch und Frisiersalons. Und siehe da: Der Plan ist erfüllt. 0,37 Quadratmeter Ladenfläche nach WpB kann jeder Mitte-Bewohner sein eigen nennen.

Anders jedoch als die Stadträtin zeigen sich die Autoren der Studie durchaus besorgt: Nur manche Gebiete in Mitte, so die Untersuchung vom vergangenen Oktober, können als normal versorgt gelten. So stehe im gesamten Gebiet der Luisenstadt „für die Versorgung von 13.604 Menschen nur ein Supermarkt und ein Bäcker zur Verfügung“. Der „Nahversorgungsgrad“ mit WpB liegt hier bei 0,16 Quadratmeter je Einwohner. „Bis auf das kleine Gebiet der Brückenstraße“, heißt es zur Luisenstadt weiter, „kann von einer Nahversorgungsstruktur nicht gesprochen werden. Sie ist ansonsten faktisch nicht vorhanden.“

Nicht viel besser sieht es in der Königstadt im Gebiet um Nikolaiviertel und Spandauer Straße aus. Hier gibt es zwar statistisch eine Überversorgung, die aber, so die Bezirksstudie, „in erheblichem Maße durch Gaststätten geprägt ist“. Noch angespannter stelle sich die Lage am Spittelmarkt dar: „Hier befindet sich faktisch nicht ein Einzelhandels- oder Handwerksgeschäft, das mit WpB handelt.“ Insgesamt, so kommen die Autoren der Bezirksstudie zum Ergebnis, „bietet Berlin-Mitte gegenwärtig seinen Bewohnern kein einheitliches Nahversorgungsniveau“.

„Prinzipiell müssen wir verhindern, daß in Mitte weitere Gebiete entvölkert werden“, meint Falk Jesch von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM). Seine Devise: Mehr Wohnungen auch in die Neubauprojekte privater Investoren. Um die Nahversorgung aufrechtzuerhalten oder gar zu verbessern, sei deshalb an der Gewerberaumvergabe auch das Bezirksamt Mitte beteiligt. „An den Gewerbemieten jedenfalls liegt es nicht“, ist sich Falk Jesch sicher: „Bei Lebensmittelgeschäften gehen wir oft runter bis zu 20 Mark pro Quadratmeter.“ Meist ohne Erfolg. Und um „Ullrich“ in die Wilhelmstraße zu holen, meint Jesch, habe es schon richtiger Klimmzüge bedurft. „Wir kriegen da keinen mehr rüber, der Lebensmittel verkauft, da können wir planen, soviel wir wollen.“

Daß sich ein Gewerbebetrieb in so begrenzten oder vereinzelten Wohngebieten wie in Mitte nur schwer rechnet, weiß auch Lutz Engler. Seine Frau betreibt an der Wilhelmstraße ein Einzelhandelsgeschäft, er selbst sitzt in der Betroffenenvertretung des künftigen Regierungsviertels. „Die kleinen Läden“, nennt er den eigentlichen Grund für Leerstand und Unterversorgung, „haben hier ziemlich hohe Mietpreise, während ,Ullrich‘ sehr gut weggekommen ist.“ Aus diesem Grund wollen die Gewerbetreibenden aus der Wilhelmstraße nun eine Initiative gründen. Auch in Hinblick auf den befürchteten Druck, den die Regierung im Viertel ausüben wird.

Optimistisch gibt sich in dieser Frage PDS-Wirtschaftsstadträtin Jutta Barthels: „Wenn erst die Beamten da sind, wollen die auch ihre Versorgung vor Ort haben.“ Außerdem müßten sich diejenigen, die immer wieder das Eingehen der Tante-Emma-Läden bedauerten, mal fragen, „ob sie selbst da hingegangen sind“. Uwe Rada

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