Abwarten und Tee trinken

Einsamkeit, monotones Rattern und Wüste, soweit das Auge reicht – eine Fahrt mit dem „Indian Pacific“ durch die baumlose Ebene Australiens  ■ Von Thomas Blees

Etwa bei Kilometer 1120 klopft es um Punkt 6.30 Uhr morgens an unserer Abteiltür. „Good morning, tea is ready!“ Zugbegleiterin Annie öffnet und reicht zwei Tassen Tee herein. „Schauen Sie mal aus dem Fenster: wir haben jetzt die Nullarbor Plain erreicht!“ Noch etwas verschlafen folge ich der freundlichen Aufforderung. In der aufgehenden Sonne durchschneidet unser Zug unter monotonem Rattern eine endlose Ebene. Wüste, soweit das Auge reicht: die „Nullarbor Plain“. Dieser dem Lateinischen entlehnte Begriff bedeutet auf deutsch soviel wie „baumlose Ebene“. Als ob es auf dieser tausend Kilometer breiten Ausdehnung von West nach Ost lediglich an Bäumen fehlen würde! Knochentrockener roter Sandboden auf einer Fläche viermal so groß wie Belgien, mit vereinzelten Grasbüscheln. Das ist alles. Und doch stellt dieser Teil der Fahrt für die meisten Passagiere die eigentliche Attraktion des Indian Pacific dar: Mit dem Zug durch die Wüste...

Auf diesem Streckenabschnitt werden beim Blick aus dem Fenster verrostete Öltonnen und ein Stapel Holz am Wegesrand automatisch zu Sehenswürdigkeiten erhoben. Nur selten läßt sich in der Ferne eine Wellblechhütte ausmachen. Gelegentlich kreist ein Vogel über dem Zug. Meist sind es Adler, die in der Wüste zu Hause sind. Sie nisten auf den Telegrafenmasten entlang der Strecke.

Die ausgebreiteten Schwingen des Adlers sind auch das Symbol des legendären Indian Pacific, der seit 22 Jahren regelmäßig die 3.961 Kilometer lange Strecke quer durch Australien zwischen Indischem Ozean und Pazifik zurücklegt. Die aufgemalten Adlerschwingen, die jeden der silbern glänzenden Waggons an der Außenseite schmücken, sollen „das Abenteuer, das einen Kontinent umspannt“, verkörpern, wie die australische Eisenbahngesellschaft für den legendären Zug wirbt.

Dieses Abenteuer hatte für uns seinen Anfang in Perth genommen, der Hauptstadt West-Australiens, gelegen am Indischen Ozean. Von einem kleinen Vorortbahnhof mit nur zwei Gleisen startet der Indian Pacific zweimal wöchentlich – montags und freitags – um 13.35 Uhr. In den nächsten 65 Stunden wird sich eine silbrig glänzende Schlange von 23 Waggons über den ganzen Kontinent schlängeln. Die Haltestellen unterwegs sind rar gesät, nur selten sehenswert. Doch das ist beim Indian Pacific egal: Hier ist für viele Reisende der Weg das Ziel. Denn Sydney ließe sich mit dem Flugzeug schneller und preiswerter erreichen.

Erster Zwischenstopp ist bei Kilometer 657 in Kalgoorlie, einer alten Goldgräberstadt, die wir am ersten Abend erreichen. Ein Reisebus steht für uns am Bahnhof bereit und nimmt uns mit auf eine kurze Stadtrundfahrt. Vorbei an zahlreichen prachtvollen Bauwerken, die vom einstigen Reichtum dieser Stadt zeugen. Vor genau hundert Jahren hatte hier ein gewisser Paddy Hannan als erster Gold entdeckt und löste damit einen Goldrausch aus. Doch von der einstigen „Golden Mile“ ist nur noch die Mt.-Charlotte-Mine übriggeblieben. Heute leben die rund 25.000 Einwohner von den neuen Nickelbergwerken in der Umgebung und vom Tourismus.

Während wir die Fahrt fortsetzen, kümmern sich sechzehn Zugbegleiter, zwei Lokführer, ein Techniker und vier Köche um unser Wohl. Pro Waggon werden für die Reise 600 Liter Wasser getankt. Die Köche bereiten für die Passagiere in der 1. Klasse dreimal täglich je 144 Mahlzeiten zu. Ob Frühstück, Mittag- oder Abendessen: da der Speisewagen nur 48 Sitzplätze hat, wird in drei Schichten gegessen; im Stundentakt, im wahrsten Sinne des Wortes fast food. Dem entspricht leider auch die Qualität der Mahlzeiten, die – bis auf die Getränke – im Fahrpreis der 1. Klasse enthalten sind.

Irgendwann während des Frühstücks, so gegen 8.30 Uhr, bei Kilometer 1388, überqueren wir die Grenze zwischen West- und Südaustralien und stellen die Uhr zum ersten Mal um eine Stunde vor. Bald darauf erreichen wir eine weitere Haltestelle: Cook. Ein Ort, oder besser: eine kleine Häuseransammlung mitten in der Nullarbor Plain. 100 Kilometer entfernt vom Meer und 500 Kilometer von der nächsten Stadt. Hier leben achtzig Menschen und etwa eine Million Fliegen. Letztere stürzen sich begeistert auf die Reisenden, die sich unter heftigen Armbewegungen zum „Bahnhofskiosk“ begeben, um das Bruttosozialprodukt des Ortes entscheidend zu erhöhen. Postkarten, Briefumschläge und Aufkleber mit dem Motiv des Ortes sind begehrte Souvenirs. Denn Cook liegt am längsten schnurgeraden Stück Eisenbahnstrecke der Welt, das 478 Kilometer durch die Nullarbor-Plain-Ebene verläuft. Ein Transparent („If you're a crook, come to Cook“) wirbt für einen Aufenthalt im örtlichen Krankenhaus – doch zumindest heute vergeblich. Denn alle Reisenden steigen nach einer Stunde wieder ein, um den Fliegenschwärmen und der Trostlosigkeit des Ortes zu entkommen. Die Einheimischen bleiben sämtlich zurück, obwohl ihnen die Eisenbahngesellschaft freie Fahrt auf dem Indian Pacific gewährt – wohl zum Dank dafür, daß man hier regelmäßig die Wassertanks des Zuges auffüllt.

Mit dem Wasser aus einem dieser Tanks bereiten wir uns erst mal eine Tasse Tee, als sich der Zug mit einem Ruck wieder in Bewegung setzt. Abwarten und Tee trinken – das ist angesichts der über weite Teile öden Strecke ohnehin fast das einzige, was man unterwegs machen kann. Interessanter wird es erst wieder bei Kilometer 2666 – da erreichen wir die erste Großstadt, Adelaide – oder noch einen Tag später, wenn sich der Zug über die tausend Meter hohen „Blue Mountains“ bis zum Ziel nach Sydney quält.

Unterdessen bietet auch der „Salonwagen“ (mit Bar, die um 22.30 Uhr dichtmacht) wenig Abwechslung. Er strahlt den Charme der frühen siebziger Jahre aus: dunkelgrüne Ledersessel, ein ramponiertes Elektropiano und ein alter Schwarzweißfernseher. Kein Wunder, daß da viele Sitze leer bleiben, zumal der Preis für die einfache Fahrt von Perth nach Sydney in der 1. Klasse (freilich zum Teil mit eigener Dusche und WC) über 1.000 Mark beträgt. Da die 1.-Klasse-Passagiere aber benötigt werden, um die hohen Kosten für den Unterhalt des berühmten Zuges einzuspielen, sieht sich die staatliche Eisenbahngesellschaft „Rail Australia“ inzwischen zum Handeln gezwungen. In ihren Werkstätten in Port Augusta (Kilometer 2347 auf der Strecke), einer kleinen Hafenstadt am Spencer Golf, werden die Wagen des Indian Pacific derzeit nach und nach renoviert.

Mit umgerechnet rund 14 Millionen Mark bezuschußt die Bundesregierung dieses Vorhaben. Ende 1994 soll der erste völlig neu gestaltete Indian Pacific das Werk verlassen. Die Zahl der 1.-Klasse- Plätze wird dann von 144 auf 88 reduziert sein, so daß auch mehr Zeit zum Essen bleibt. Einen entsprechenden Werbespruch hat sich die Eisenbahngesellschaft für den neuen Indian Pacific schon einfallen lassen: „Ein Abenteuer, das Appetit macht.“

Der Artikel ist erschienen in „Australien“ von Clemens Emmler, Trescher-Verlag, Berlin 1993, 26,80 DM.