Das fliegende Klassenzimmer

In der Berliner Artistenschule werden staatlich geprüfte Artisten mit Anspruch auf Arbeitslosengeld ausgebildet / Wenn alle Stricke reißen, fängt sie das soziale Netz auf  ■ Aus Berlin Michaela Schießl

Wer Gummimensch werden will, braucht Rückgrat. Denn bevor Wirbelsäulen sich biegen wie Weidenruten, Fußsohlen an den Ohren vorbeigleiten und Hintern auf Köpfen liegen, steht vor allem eins: Üben, Üben, Üben. Nur Übung macht den Gesellen: Klappt die Nummer, ist man staatlich geprüfter Artist mit Anspruch auf Arbeitslosengeld. „Bei uns lernt man, Faxen zu machen. Aber Faxen mit Niveau“, sagt Gerd Krija, künstlerischer Leiter der Artistenschule Berlin, des wohl exotischsten Überbleibsels der DDR.

Seine Lektionen sind nicht immer lustig. Stöhnend entwirrt sich Silke, die Gummifrau, und steigt vom Podest. Über ihr zerrt Katja an der Sicherungslonge. „Das wackelt, das Scheißding“, ruft sie dem Trainer zu, der das Seil straff hält. Das „Scheißding“ ist ein stählernes Halbmondgestell, und wackeln tut es in 15 Meter Höhe, wenn Katja den Handstand probt.

Hoch oben, unter dem Dach der Berliner Musikschule, ist die Werkstatt, in der Artisten gemacht werden, und so mancher Geigenkasten ging zu Boden, wenn ein verirrter Student die unscheinbare Stahltür im fünften Stock öffnete: Da rennt ihm Gunner, der Einarmige, im Handstand entgegen, zwei Frauen schlängeln sich am Trapez, eine andere testet den Biß ihres Partners – sie turnt auf einer meterhohen Stange, die er im Mund balanciert. Wo man auch hinsieht, es wackelt, kreiselt, fliegt. „Wahnsinn auf allen Ebenen!“ entfährt es dem fassungslosen Besucher. „Das ist nur solides Handwerk“, erwidert Krija süffisant. „Wer Extreme sehen will, soll zur Abnormitätenshow.“

Lässig lehnt sich der 52jährige in seinem Stuhl zurück und grinst aus dem karierten Flanellhemd, das keinen Schmerbauch zu kaschieren hat. Der Ex-Artist hat bereits 1965 das Zirkuszelt gegen das kleine Büro im Hinterhof der Friedrichstraße 112 a getauscht. Dort sitzt er nun, läßt seine stahlblauen Augen mal spöttisch, mal scherzhaft, dann wieder ernst dreinblicken, kokettiert damit, „so was wie ein Beamter“ zu sein, und weiß sehr wohl um seine Aura des Intellektuellen mit Manegengeruch, des Ärmel-hochkrempel- Künstlers.

Seine Lässigkeit wirkt echt – sie ist die eines Profis, und tatsächlich läßt Krija keinen Zweifel daran, ein kämpferischer Hüter seines Berufsstandes zu sein. „Ich fühle mich als Bewahrer der Zirkustradition. Der Zirkus hat nur Zukunft, wenn die artistische Leistung stimmt.“

1956 wurde die Berliner Artistenschule gegründet, um den Nachwuchs für die drei Staatszirkusse Berolina, Aeros und Busch – kurz VEB Zentralzirkus – zu sichern. Zehn 14jährige wurden jährlich ins Zirkusinternat aufgenommen und in den akrobatischen Genres ausgebildet: Trapez, Tempoakrobatik, Drahtseil, Jonglieren, Equilibristik (Handstände/ Gleichgewichtskunst) und Ballett. Wem der Schalk im Nacken sitzt, lernt Clown.

Einst konnte Krija seine zehn Favoriten aus 200 Bewerbern aussortieren. Die Auserkorenen hatten ausgesorgt – die Übernahme in einen Staatszirkus war obligatorisch. Sicherlich: Alt wird kaum ein Artist in der Manege; mit 40 steht meist Umschulung auf dem Programm. Doch zum Ausgleich durfte man reisen. Was bedeutete, daß die Stasi des öfteren ums Trapez schnüffelte. Krija erinnert sich, daß Zirkus Krone Mitte der 70er Jahre die Schleuderbrettnummer vom Klassenfeind engagieren wollte. Zwei Artisten wurde die Ausreise verwehrt, das Engagement war gestorben. „Insgesamt gesehen hatten wir wenig Ärger mit der Firma“, sagt Krija, der selbst drei Jahre im Zirkuswagen tingelte. Im Vergleich zu anderen Künstlergruppen hatte der Pappnasen-Reisekader Narrenfreiheit.

Nach der Wende sollte die Artistenschule privatisiert werden, doch Krija sträubte sich: „Nicht mit mir! Dann schicken mir die reichen Onkels ihre dicken Töchter, und ich muß sie nehmen.“ Der Hüter des Artistenhandwerks setzte sich durch. Im August 1991 fusionierte die Schule mit der staatlichen Ballettschule und wurde dem Berliner Schulsenat unterstellt. Doch einige Federn mußte Krija lassen. Die Ausbildung dauert zwei Jahre einschließlich Berufsfachschule und vier Jahre einschließlich Realschulabschluß. Wichtiger jedoch: Auch für 25jährige ist das Trapez in greifbare Nähe gerückt – der Zugang ist altersoffen. Originalton Krija: „So alte Knochen hätten wir früher nicht genommen.“

Doch allzu wählerisch darf der Ausbilder nicht mehr sein. Nur noch 50 Bewerber lassen sich jährlich auf ihre Zirkustauglichkeit testen, etwa die Hälfte kommt aus dem Westen. Motorisches Geschick allein macht noch keinen Artisten: Ein wenig exhibitionistisch muß man veranlagt sein, sich produzieren wollen. Und eine lockere Lebenseinstellung haben – für Sicherheitsdenken ist kein Platz im Zirkuswagen.

Claudia ist 24 und ein alter Knochen. Seit sie sechs war, wollte sie zum Zirkus. „In unserer Nachbarschaft in Düsseldorf überwinterte ein kleiner Familienzirkus. Ich war jede freie Minute dort.“ Später reiste sie mit, als Mädchen für alles, bis die entsetzten Eltern die Tochter zur Ordnung riefen. Artig wurde sie medizinisch-technische Assistentin und bewarb sich gleich danach um ihren Traumjob: „Für mich gibt es nur noch Zirkus.“ Mit verträumter Romantik hat Claudias Entscheidung nichts zu tun, längst hat Krija ihr alle Illusionen geraubt. Das dient dem klaren Blick und tut not, um die Fluktuation gering zu halten. Trotzdem: Rund ein Drittel der Schüler springen ab, wenn die Realität allzu ungeschminkt daherkommt. Hart ist der Kampf ums Engagement, jede Saison aufs neue. Und wer einmal mit einem Zirkusdirektor verhandelt hat, preist das Geschäftsgebaren eines Gebrauchtwagenhändlers. 3.000 bis 4.000 Mark netto müssen monatlich rausspringen, um über den Winter zu kommen. Wer krank wird, hat Pech.

Für Krija ist das Ausbildungsziel klar: Zirkus. Doch nicht jeder liebt den Duft von Sägespänen, die Enge der Zirkuswagen und den Geruch vom Pumakäfig nebenan. „Für uns kommt nur Varieté in Frage“, sagen Sabine und Katrin, zwei 26jährige von der Alte-Knochen-Fraktion. Ihre Hängetrapeznummer ist für die Bühne kreiert.

Wie Pilze schießen hochdotierte Varietés, Galas, Traumtheater aus dem Boden und machen dem traditionellen Nummernzirkus Konkurrenz. „Ein André Heller kann mit blumigen Worten Blech als Gold verkaufen“, haut Krija in Richtung des Roncalli-Erfinders. Wobei Heller mitnichten das Geschichtenerzählen erfand. „Das gab es schon in den 30er Jahren, denken Sie nur an Buschs Wasserpantomime.“ „Bauchschmerzen“ bekommt Krija dann, wenn die artistische Leistung nicht mehr stimmt und nur noch erzählt wird. „Man sollte das Publikum nicht mit Scharlatanerie und Gaukelei für blöd verkaufen. Es hat gute Live-Unterhaltung in perfekter Qualität verdient, nicht bloß Verpackung.“

Dem Zauber des Magiers David Copperfield jedoch ist auch Krija erlegen. „Bei dem stimmt alles: die Akrobatik, die Show, sein Aussehen. Mit dem Glöckner von Notre- Dame wäre das nicht zu machen.“ Die Tricks hat Copperfield jedoch nicht neu erfunden. Junge Frauen endeten schon immer „zersägt“, und Elefanten verschwinden seit Jahren in Manegen. „Aber selten so perfekt“, räumt Krija ein.

Zehn Angestellte helfen ihm, das filigrane Handwerk zu vermitteln. Einer davon ist Herr Deisler. Zwanzig Jahre lang machte er Faxen auf dem Trampolin. Heute läuft er bedächtig durch die Halle und verbreitet Ruhe. Streß hat am Trapez nichts zu suchen. 23 Stunden pro Woche trainiert er seine angehenden Stars der Manege, doch ihren traditionellen Arbeitsplatz sehen sie selten. „Früher konnten wir oft präsentieren, vom Frauentag bis zum Fest im Palast der Republik“, sagt Deisler.

Heute üben seine Zöglinge nur selten den Ernstfall, im Friedrichstadtpalast oder bei „Menschen, Tiere, Sensationen“.

Hat die Zunft noch Zukunft in Zeiten von Unterhaltungsindustrie und m-tv? „Zirkus gibt es seit 2.000 Jahren“, flüstert der altgediente Lehrer andächtig. „Der Zirkus stirbt nie.“

Nur seine eigene Zirkuswelt scheint zerbrochen zu sein. Kummerfalten kräuseln die Stirn, und ein wehmütiger Zug umgibt seinen Mund. „Seit der Wende ist alles anders“, sagt er. „Nur noch Konkurrenz, nur noch Ellenbogen. Nichts ist übriggeblieben von der großen Zirkusfamilie, wo es Gruppendarbietungen gab und Zusammenhalt. Da ist was kaputtgegangen.“

Kurz nur läßt Deisler die Erinnerung zu, dann kehrt er zurück in die neue, fremde Gegenwart und ihre Unzulänglichkeiten. „180 Zirkusse gibt es heute in Deutschland, 170 davon kann man glatt vergessen“, schimpft der Profi. „Die bringen den gesamten Berufsstand in Verruf.“ Das muß verhindert werden! „Gunner, Spannung, und nicht so wackeln!“ ruft Deisler. Katja muß noch mal hoch in die Kuppel, und ihr Kollege hüpft aufs Drahtseil. Handwerk kopfüber auf allen Ebenen. Erst wenn Deisler in die Hände klatscht zur Pause, klettern sie herunter von den Trapezen, den Ständern, den Podesten und laufen raus zur Butterstulle. Auf den Füßen, wie ganz normale Menschen.