Vernunft tritt ab, Wahnsinn gibt Pressekonferenz

■ Finanzminister Fjodorow gibt auf Schirinowski und Frey spielen Jalta

Moskau (taz/dpa) – Zehn Tage brauchte der Klärungsprozeß, ob Finanzminister Boris Fjodorow auch dem neuen Kabinett angehören solle. Gestern nahm Präsident Jelzin das Rücktrittsgesuch des überzeugten Reformers an. Damit hat Premier Viktor Tschernomyrdin über die Hintertür des neuen Kabinetts nicht nur die Leitung der Regierungsgeschäfte, sondern auch die Richtlinienkompetenz an sich gerissen. Fjodorow wirft der neuen Regierung vor, den noch vor wenigen Tagen bekräftigten Kurs des Präsidenten zu verlassen und einen politischen Umsturz in die Wege geleitet zu haben. Für die kommenden Monate sagt er eine inflationäre Preisentwicklung von mehreren hundert Prozent voraus, begleitet von einem schwindenden Warenangebot und wachsender Kapitalflucht ins Ausland. Unter diesen Umständen lasse sich das Vorhaben der neuen Regierung, die Produktion anzukurbeln und drohender Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken, nicht realisieren. In diesen Stunden entscheide sich das Schicksal Rußlands, heißt es dramatisch bei Fjodorow.

Die neue Politik in Moskau wird vornehmlich die Lobbyisten zufriedenstellen und sich zuungunsten der Bevölkerung auswirken, meinte auch der scheidende schwedische Wirtschaftsberater Jelzins, Aslund. Unterdessen macht der neue Vizepremier, Oleg Soskowez, seinem vorauseilenden Ruf eines unbelehrbaren Kommandowirtschaftlers alle Ehre. Er sprach von notwendiger Preisregulierung und beschuldigte das Ausland, nicht genügend Wirtschaftshilfe zur Verfügung gestellt zu haben. Ansonsten wolle man sich jetzt nicht mehr von Fremden in die Politik hineinreden lassen. Als Alternative zu Fjodorow wurde erneut Wladimir Schtscherbakow ins Spiel gebracht. Er diente unter Valentin Pawlow der letzten Sowjetregierung als stellvertretender Minister. Pawlow gehörte zu den Putschisten gegen Gorbatschow im August 91. Auch andere Unbelehrbare traten gestern an die Moskauer Öffentlichkeit: Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Wladimir Schirinowski kündigte Gerhard Frey, Führer der Deutschen Volksunion (DVU), rechtliche Schritte an, wenn Schirinowksi beim nächsten geplanten Deutschland-Besuch wieder das Visum verweigert werde. Unterdessen hat die russische Generalstaatsanwaltschaft nach Meldungen Moskauer Agenturen am selben Tag ein Verfahren wegen Kriegshetze gegen Schirinowski eingeleitet. Im Falle einer Verurteilung wegen Kriegspropaganda drohen dem Führer der rechtsextremen LDPR bis zu acht Jahre Gefängnis. Schirinowski und Frey äußerten sich auf ihrer Pressekonferenz zu Grenzveränderungen allerlei Art – „in Schlesien“, „auf der Krim“, friedlich (Frey), auch weniger friedlich (Schirinowski), auf dem Konferenzwege, durch Aushungern oder Bombenfall. Einen dritten Weltkrieg mochte keiner der Herren ausschließen.khd