Einstein, gelandet und gestrandet

Heute kommt die erste Lieferung einer Werkausgabe letzter Hand von Philip Glass auf den Markt. Mit dem Kultstar der Opernhäuser, Chef eines kleinen Firmenimperiums und Klassiker der (Post-)Moderne sprach  ■ Werner Stiefele

Opernkomponisten sind in der Regel keine Popstars – wenn sie nicht gerade Philip Glass heißen. „Einstein On The Beach“ ist der Titel des Werks, mit dem er 1976 plötzlich ins Feuilleton geriet, berühmt wurde und weltweit auf Tournee ging. Seither hat der 1937 in Baltimore geborene Glass sich – mehr noch als Terry Riley und Steve Reich – als bekanntester Vertreter und Galionsfigur der „Minimal Music“ etabliert, hat elf weitere Opern geschrieben, ein kleines Firmenimperium aufgebaut, hat die Musik zu milde zivilisationskritischen Bilderbogen-Filmen wie „Koyaanisquatsi“ und „Powaqqatsi“ geschrieben, ist berühmter und berühmter geworden, aber auch – wie nun immer wieder beklagt wurde – an den Ufern eines neuen großstädtisch-liberalen Kultur-Mainstream angelandet.

Mittlerweile ist Philip Glass so arriviert, daß er es sich leisten kann, Teile seines Werks unter finanziell und technisch verbesserten Bedingungen noch einmal neu aufzunehmen – oder zumindest digitally zu remastern. Heute erscheint auf dem „Nonsuch“-Label das erste Ergebnis dieser Anstrengung: „Einstein On The Beach“ als 3-CD-Box, zusammen mit „Hydrogen Jukebox“, einer Kooperation mit Allen Ginsberg von 1990 – ein „Medienereignis“. Am 25. Februar folgen der Film-Soundtrack „Anima Mundi“ sowie „Music in Twelve Parts“ von 1974. Den Abschluß machen am 25. März „Music in Changing Parts“ und die „Early Works“.

taz: „Hydrogen Jukebox“ erscheint erstmals auf CD. Was hat sie zu der Musik inspiriert?

Philip Glass: Es handelt sich um ein Portrait Amerikas am Ende des 20. Jahrhunderts. Allen Ginsberg, von dem die Texte stammen, spricht sogar vom Ende des „Empire“. Ich stimme ihm dabei zu.

Verschwindet das amerikanische „Empire“ denn wirklich?

Ja, und nicht nur dieses. Man redet viel von einer „Neuen Weltordnung“. Ich weiß zwar auch nicht, wie sie aussehen wird, aber eines ist klar: Die Welt ist inzwischen so verflochten, daß die Anstrengungen um gemeinsame Märkte sehr stark werden. Die wirtschaftliche Entwicklung verlangt immer mehr nach der radikalen Idee einer Vereinigung der Welt zu einem einzigen Land. Bei uns in Amerika etwa gab es eine gewisse Furcht vor einer japanischen Wirtschaftsinvasion. Aber inzwischen bauen die Japaner in Amerika Fabriken. Ein großer Teil der amerikanischen Wirtschaft gehört Leuten, die wir „Ausländer“ nennen – man spricht jetzt einfach von „internationalen Gesellschaften“. Der Nationalismus ist überholt, eine nostalgische Angelegenheit. Die Wirtschaft geht wie immer voran, aber wir sehen das auch in der Kultur. Die Musik entwickelt sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer Weltkultur. Als ich an der Musikhochschule war, studierten wir nur westliche Musik. Wenn heute ein junger Musiker nur die Tradition von Bach, Mozart, Wagner, Boulez und so weiter kennt, aber nicht über Musik aus Indien und Afrika Bescheid weiß, halten wir ihn für schlecht ausgebildet.

Sie sprachen ja schon an, daß sie für die 15 Stücke von „Hydrogen Jukebox“ Gedichte von Allen Ginsberg verwendet haben. Sein Name ist stark mit den Sehnsüchten der 68er-Generation verknüpft. Wie stehen Sie dazu?

Damals lautete der wichtigste Slogan „Trau keinem über 30“. Ich war aber schon 31. Das heißt, ich hänge zwischen der Hippie-Generation und den Beatniks. Als ich nach New York kam, war Allen 30. Er war während des Vietnamkrieges eine Art Sprecher von ganz Amerika – und nicht nur eine Figur aus der Gegenkultur.

Okay, aber was hat das in den USA verändert?

Was 1968 radikal war, steht heute im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Die Gedanken von Ökologie- und Friedensbewegung sowie die Idee der sexuellen Befreiung wurden von der breiten Bevölkerung der Vereinigten Staaten akzeptiert. Was nicht heißen soll, daß Friede, Freude, Eierkuchen herrscht – denken Sie bloß an die Abtreibungsgegner! Oder daran, daß sich eine starke fundamentalistische christliche Bewegung entwickelt, wie überall in der Welt übrigens. Aber bei uns handelt es sich wohl um eine Reaktion der Rechten auf diese großartige Verwandlung radikaler Ideen in Mainstream.

Godfrey Reggios Filme „Koyaanisquatsi“ und „Powaqqatsi“, zu denen Sie die Musik schrieben, waren ja auch mehr meditativ-gesellschaftskritisch als aufrührerisch ...

Ich weiß nur, daß wir in einer Krise stecken. Godfrey und ich beginnen gerade mit der Arbeit an einem dritten Film über den Einfluß der Technologie auf die traditionellen Arten zu leben. Die Technologie schafft eine völlig neue Situation für das Verhältnis zu unserer Umgebung. In dem Hotelzimmer, in dem wir sitzen, sind wir von Technologie umringt! Wir kommen mit der Welt als primärer Umgebung überhaupt nicht mehr direkt in Kontakt, sondern nur durch Erfindungen, die von Menschen gemacht wurden.

In Ihren Opern „Akhnaten“, „Satyagraha“ und „Einstein On The Beach“ befassen Sie sich mit mehr oder weniger weit zurückliegenden Ereignissen. Es geht um Echnaton, Mahatma Ghandi und Albert Einstein. Warum komponieren Sie nicht mal was Zeitgeschichtliches?

Das ist mir zu nahe. Ich mag zwar sehr, wie John Adams mit „Nixon In China“ umging, ich mag Anthony Davis' Oper über Malcolm X. Die Idee, die Gegenwart auf die Opernbühne zu bringen, wurde ja Teil der Oper des 20. Jahrhunderts. Aber mich haben bisher andere Themen angezogen. Unsere Generation hat als erste einen unglaublichen Überblick über die Geschichte. Einige Leute rekonstruieren Ereignisse, die vor 50.000 Jahren geschehen sind. Es ist ein seltsamer Widerspruch, daß in demselben Moment, in dem einerseits die gesellschaftliche Umwälzung einige erschreckende Szenarios entwickelt hat, sich andererseits auf der individuellen Ebene unglaubliche Möglichkeiten bieten.

Diese intellektuellen Möglichkeiten haben aber immer noch nur sehr wenige ...

Eine kleine Gruppe, ja. Aber es müssen nicht unbedingt Intellektuelle sein. Allen Ginsberg und ich haben mit einem Freund geredet, der tibetanischen Buddhismus lehrt. Allen fragte ihn, was er von der Zukunft halte, und unser Freund sagte: Es geht noch zwei oder drei Generationen, und dann ist das hier alles vorbei. Allen hat sich sehr darüber aufgeregt und gefragt, warum wir dann noch so hart arbeiten, warum er all seine Lesungen mache? Unser Freund antwortete: Weil es die beste und wichtigste Zeit ist. Ich habe auch einen interessanten Nachmittag mit dem Schriftsteller Isaac Asimov verbracht, ein brillanter Mann. Er sagte, er sei alt und krank und werde bald sterben. Ich fragte ihn, wie er sich dabei fühle, und er sagte, er sei sehr verärgert, weil er die Zukunft nicht sehen könne. Da frage ich nach seiner Vorstellung vom Tod. Er: Ich löse mich in Atome und Moleküle auf, und das war's. Mir kam diese Idee seltsam vor. Für mich ist diese materielle Welt nicht die einzige.

Glauben Sie an Wiedergeburt?

Das Wort „Rebirth“ macht es zu einfach. Es ist eine alte Idee, daß unsere Welt zwar keine Illusion ist, daß sich hinter ihr aber eine richtige Welt verbirgt. Die Idee der Reinkarnation macht den Tod nicht so wichtig.

Glauben Sie, daß künftige Generationen Ihre Musik spielen?

Das ist mir fast völlig gleichgültig. Vor langer Zeit schon habe ich die Idee aufgegeben, für die Geschichte zu schreiben. Es schien mir besser, für die Leute zu schreiben, die am Leben sind. Ich meine, es läuft doch auf die Frage heraus, warum die ungeborenen Kinder besser als die Kinder von heute sein sollen. 2015, 2025 oder gar das 22. Jahrhundert sind die Zeit der Fantasy-Stories. Leute, die „für die Geschichte schreiben“, leben nicht in der wirklichen Welt. Eine ganze Generation komponierte nicht für ein vorhandenes Publikum. Sie sagten sich, eines Tages werde das Publikum ihre Stücke schon hören wollen. Jetzt sind 50 Jahre vergangen, und das ist immer noch nicht eingetreten. Sie haben sich vielleicht nicht getäuscht, aber bis jetzt hatten sie auch noch nicht recht. Wer sein Leben einem imaginären Publikum widmet, hat ein ernsthaftes spirituelles Problem. Alle, die „Minimalisten“ genannt werden, waren nicht nur Teil einer Reformbewegung, die zu grundlegenden Dingen wie zu Rhythmus, Harmonie und Melodie zurückkehrten, sondern die auch als Vortragskünstler das Publikum wieder entdeckten. Ich gebe pro Jahr etwa 20 Solo-Piano- Konzerte und 15 bis 20 Vorstellungen mit dem Ensemble. 1965 hieß es, die Oper sei tot. Heute kenne ich keinen Komponisten, der nicht Opern schreibt.

Sie entsprechen nicht dem Bild, mit dem viele Schüler aufwuchsen, zumal in Europa: daß ein Künstler einzig für seine Kunst zu leben habe, fern von Markt und Getriebe...

Es gibt diese Art von Idealismus aber durchaus noch, und ich bewundere sie. Auch ich habe etwas davon. Das Gegenteil wäre, daß man sich ausschließlich ums Geldverdienen kümmerte. Das ist in der Popmusik üblich. Ich halte nichts davon, Musik für ein Publikum zu schreiben, das noch nicht einmal geboren ist, aber ich halte am inhaltlichen Idealismus fest.

Wieviel Millionen stehen hinter ihrer Musik? Wie reich sind sie?

Und dann noch alles bei einer Schweizer Bank versteckt, was? Im Ernst: Als bei der Tournee von „Einstein On The Beach“ 1992 die Gefahr bestand, daß ein Sponsor nicht zahlt, hätten wir 250.000 Dollar verlieren können. Das wäre ein Desaster gewesen. So viel haben wir nicht.

Haben Sie Angst, daß Sie bei der Gratwanderung zwischen Kunst und Kommerz einmal abstürzen könnten?

Natürlich ist das riskant. Nur aus diesem Grunde lasse ich mich darauf ein. Es wäre viel sicherer, sich an einer Universität einzuschließen und vor sich hin zu komponieren. Das hat etwas sehr Sicheres, denn so jemand hat sein festes Professorengehalt und kann sich damit beruhigen, daß die Leute vielleicht eines Tages seine Musik mögen werden. Ihm kann das gleichgültig sein. Für mich ist das aber so, als ob man vor der Realität wegrennen würde.

Man vergißt sehr leicht, daß meine Musik in den frühen siebziger Jahren sehr umstritten war. Bei meinen ersten Konzerten wurde ich ausgebuht und mit Gegenständen beworfen. Ich habe 1968 mein Ensemble gebildet, aber erst 1979 trat ich in der Carnegie Hall auf. Zuvor spielte ich in Galerien, Museen, Parks und Schulen. Nur einmal, 1974, waren wir in New York in einer Konzerthalle, der Town Hall. Es gab noch nicht einmal Plattenfirmen, die unsere Musik wollten. „Einstein On The Beach“ konnte ich 1976 nur bei einer kleinen Firma, Tomato, unterbringen. Erst später übernahm Columbia [CBS, heute Sony; Red.] die Aufnahmen. Weil wir damals für Langspielplatte aufnahmen, hatten wir das Werk auf 116 Minuten gekürzt. Ich bin froh, daß ich jetzt für drei CDs eine neue Aufnahme von 200 Minuten einspielen konnte – mit sehr guten Sängern. Das ist viel näher am Bühnenablauf des Stücks. Außerdem habe ich für die Firma Nonsuch frühere Arbeiten wie „Music In Twelve Parts“ neu aufgenommen, und als sechste Disc kommen die frühen Stücke von 1968 bis 1974 heraus, die ursprünglich bei der kleinen Firma als LPs veröffentlicht waren.

Inzwischen sind Sie im Besitz eines eigenen Plattenlabels „Point“. Wie viele Leute arbeiten für Sie?

Im Tonstudio und an den Point- Sachen arbeiten sechs oder sieben Leute. Dazu kommen eine Produktionsfirma und ein Verlag, der hoffentlich immer dann die Lizenzgebühren abkassiert, wenn eine Filmgesellschaft oder eine Tanzcompagnie Musik von mir verwendet. Außerdem gibt es auch noch mich: Ich muß die Musik schließlich schreiben.