Argentinien im vierten Frühling nach Menem

Zwischen Audienzen mit Claudia Schiffer, Bon Jovi und Madonna regiert der Präsident das Land  ■ Aus Buenos Aires Frank Schmitt

Es muß das Licht einer anderen Sonne sein. Oder was die Erde hier ausschwitzt. Hauskatzen sind hier halbe Tiger. Man steckt einen Ast in den Boden, und nach kaum drei Wochen treibt er aus. Dieses Land bewirkt ein gewaltiges Aufblitzen im Stammhirn, die Instinkte flammen auf, alle sind Verfolger und Verfolgte zugleich. Das bestimmt den Laufschritt und die Wege durch Buenos Aires.

Buenos Aires bildet zurück. Selbst noch zur Hauptverkehrszeit schrottreifer Oldtimer läßt man sich das Gemisch aus Dieselschwaden, vom Fluß hereinwehendem Schlammstaub und durch brüchige Gehwege aufsteigendem Sumpfgas aus dem Untergrund des Rio de la Plata tief in den Lungen schmecken, als wäre es frische Meeresluft. Reiner Instinkt. Es geht um Sehen, Entdecken und Zupacken, es geht um Spekulieren, Ausbooten und Gewinnen, es geht um Essen, Verführen und Liebe machen. Es geht ums Überleben.

Jeder Argentinier, durch dessen Hände Geld geht und der sich noch an bis zu tausend Prozent Inflation erinnert, ist fasziniert von dem intimen Gefühl der Sicherheit, das die scheinbar stabile Währung ausstrahlt. Der Dollar steht zum argentinischen Peso 1:1. Das ist volkswirtschaftlich weder durch Produktion, Export noch durch das Bruttosozialprodukt zu rechtfertigen. Um die Währung zu stützen, müssen ständig Dollars importiert werden. Das konnte der Staat bisher nur durch den Ausverkauf seiner Betriebe (bis auf den mächtigen Rüstungszweig), den fast völligen Rückzug aus jeder sozialen Verantwortung und eine funktionierende Narcodollarwäsche aufbringen. Investiert wird wenig.

Die Folgen sind unübersehbar: Landbesetzungen rund um den Stadtgürtel veranschaulichen die „Mythische Gründung von Buenos Aires“ jeden Tag aufs neue. Aus Schlamm, Stroh, Blech, Pappe und Plastikplanen. Und wie es sich für eine lateinamerikanische Metropole gehört, fressen sich die Slums langsam in den Stadtkern hinein. Aber die Regierung duldet keine Hausbesetzungen. Der staatstreue Medienapparat begleitet Räumungen mit Hetzkampagnen gegen „ausländische Schwarzarbeiter“, Brasilianer, die sich den überbewerteten Peso zunutze machen. Ein Hohn für jeden nicht nur patriotisch gesinnten argentinischen Lehrer, der bei einem Monatsgehalt von 250 Dollar sich und seine Familie nur durch drei weitere Nebenjobs und eine nicht registrierte Unterkunft durchfüttern kann – bei Durchschnittsmieten von 400 Dollar und Lebenshaltungskosten, die das westeuropäische Preisniveau weit hinter sich lassen.

Landbesetzungen werden hingegen meist feierlich legalisiert. Das bringt Wählerstimmen nicht nur in den Elendsvierteln und kostet den Staat wenig, da die Bewohner zum größten Teil selbst für die Infrastruktur von Gas, Wasseraufbereitung, Strom und Straßenbau aufkommen müssen. Außerdem übernehmen sie die städtische Müllentsorgung gleich mit. Den Rest erledigt die nächste Überschwemmung. Natürlich redet die slumeigene Mafia auch ein Wörtchen mit: 1.000 Dollar für eine Papphütte sind durchaus üblich für „Neue“. Und die kommen zuhauf.

Etwa die Koreaner. Ihre Haut ist etwas heller als die der aus den choleraverseuchten Nordprovinzen geflohenen Indigenas und Mestizen. Die „Schlitzaugen“ schaffen Verwirrung. Auch Slumbewohner können zu rassistischen Ausbrüchen neigen – „Japsenjagd“ scheint für einige der in den Schmutz Abgedrängten die bessere Schmutzarbeit zu sein.

Pfarrer Luis Farinello, der seit dreißig Jahren „sein“ Viertel im Süden von Buenos Aires betreut, weniger theologisch denn als Maurer, Rechtsbeistand und Pressesprecher, gibt jedem Neugierigen, der sich gerne auf eigene Faust etwas tiefer ins Viertel Richtung Fluß hineinwagen würde, den guten Rat, sich doch bitte einen Korken in den Arsch zu stecken. Das hat keine frühchristliche Amulettfunktion, es geht um die bildliche Vorwarnung, man könnte auch als Mann in die mißliche Lage einer Vergewaltigung kommen, falls man bei den Menschen nicht ankommt. Weil er seine Leute liebt, hat er bisher wenig unversucht gelassen, um vor allem den Jugendlichen eine Perspektive durch selbstverwaltete Projekte zu geben. Sein erstes Projekt, der Aufbau einer bescheidenen Farm, scheiterte daran, daß die ersten Tiere kurzerhand zu Asado gebrutzelt wurden. Sein jetziges Projekt kommt gut voran: das Viertel hat sich eine kleine Windelfabrik erbaut, die gute Umsätze macht.

Gleich neben der Fabrik, auf einer überschwemmungssicheren Anhöhe, von der aus man mit Lederfetzen kickende oder Maulesel schändende Kinder erblicken kann, zwischen Hunden und einer im Gras strickenden, sehr indianisch aussehenden Alten: ein Kindergarten, auch in Kooperativenarbeit erstellt, weißgetüncht, strahlt in der Sonne. Weil in den meisten Familien alleinstehende Mütter oder beide Elternteile auf Nahrungssuche sind und sie ihre Kinder unbeaufsichtigt lassen müßten. Außerdem bekommen sie hier täglich drei Mahlzeiten. Der Speiseraum ist bunt bebildert, und man findet neben Bibelsprüchen auch solche des argentinischen Rockstars Fito Paez, der auch schon mal für die Landbesetzer Gratiskonzerte gibt. Die Kinder jedenfalls singen seine Lieder, sobald eine Kamera auftaucht. Außerdem plant die Kooperative ein Gebäude, in dem die Alten des Viertels sich treffen und die Pflegefälle betreut werden können. Daneben soll eine neue Kirche entstehen, weil die erste, nun schon umgeben von Steinhäusern, den Flußanwohnern zu weit abgelegen ist und die Kirche auch als Kirche in der Siedlung präsent sein will. Protestantische Sekten machen sich schnell breit.

Vorrangig aber ist die Errichtung von Steinhäusern für die Siedler. Ein Kampf ohne Ende – kaum daß sich zehn Familien unter einem festen Dach einrichten, sind schon wieder 300 Neue dazugezogen. Zusätzlich läßt die hohe Fluktuation kaum ein Gemeinschaftsgefüge mehr heranwachsen. Eines der Probleme, die dem Pater aber am meisten zu schaffen machen, sind die Drogen. Bei Bagatelldelikten erwischte Minderjährige werden von den Polizisten als Kokainkuriere angeheuert und bleiben von der Strafverfolgung verschont. Bis zu ihrem 18. Geburtstag. Dann nämlich könnten ihre Aussagen vor Gericht den Polizeibeamten das Leben schwer machen. Sie werden erschossen.

Der Padre erklärt den Teufelskreis: Dieses Land ist eine Armenfabrik, die in den Drogenhandel verwickelten Polizisten stammen oftmals aus dem Viertel selber, das Kokain scheint ihre Fahrkarte nach draußen, das große Geld aber machen andere. Gerade versucht die Staatsanwaltschaft, gegen zwei Oberkommissare der argentinischen Polizei und einen Kongreßabgeordneten Anklage wegen Drogenhandels zu erheben. Das sind aber nur „geschmierte Räder“. Die Bosse sind ganz oben, keiner behelligt sie.

Für den porteño, den Stadtbewohner, sind die „Schlitzaugen“ alle gleich. Ausgemachte Koreaner erkennt er nur vor Videospielhallen wieder, die meisten sind fest in asiatischer Hand. Ansonsten hat er es schlimmstenfalls mit einem koreanischen Halbblut zu tun, spätestens gegen 2 Uhr morgens, in einem zweit- bis sechsklassigen Restaurant, wenn er ein paar nackte oder mit Gummistiefeln bestückte Beine an seinem Tisch erblickt und augenblicklich weiß, daß ein höchstens Siebenjähriger ihm nun ein Madonnenbildchen, einen Blumenstrauß oder einen Kalender zum Verkauf anbieten will und er, wenn er sich abwendet, draußen vor der Scheibe sein Schwesterchen erblicken wird.

Schwarze sind im Stadtbild kaum auszumachen. Als negros bezeichnet der porteño denn auch eher die vom Landesinneren: Mestizen, kupferhäutig. Sie asphaltieren Straßen, buddeln für die Gaswerke, kehren die Gehwege, säubern die Parkanlagen. Wie üblich weiß man nicht genau, ob er es abwertend oder freundschaftlich meint. Das ist Teil einer sozial anerkannten Sprachstrategie, die viele gute Gründe zum Fluchen hat, sich gerne Luft macht und die schlimmsten Flüche schon allein deshalb positiv besetzt, weil sie sich so schnell abnutzen. Vorbehaltlich einer eben doch genauso gemeinten Bedeutung. Ein negro also kann jeder sein. Oft ist es der beste Freund. Es liegt am Tonfall, erklärte mir jemand. Ich verstand das erst als Zeuge einer Schlägerei, die ganz harmlos mit qué, negro anfing. Der Angesprochene war rein zufällig kupferhäutig.

Wen wundert es, daß Staatspräsident Carlos Menem kürzlich bei einer Pressekonferenz in Holland ungefragt zum besten gab, wieso Argentinien anders ist als der Rest Südamerikas: Als erstes Land des Kontinents, das die Sklaverei per Verfassung abgeschafft hatte, blieb Argentinien daraufhin von Sklavengaleeren verschont. Offen ließ der Präsident, warum dann nicht Schwarze von überall her in die „befreite Zone“ flohen. Daß das Fehlen von schwarzer Bevölkerung unverblümt als Grund für den, zwischen den Zeilen deutlich zu hörenden, „besseren Südamerikaner“ herhalten muß, ist ein Ding. Daß Menem aber mit keinem Wort die Dezimierung der Schwarzen von Buenos Aires erwähnt, die systematisch als Infanterie in die Indianerkriege nach Patagonien geschickt wurden, ist ein Mangel an Geschichtsbewußtsein. Man vergleiche nur das auf der gegenüberliegenden Flußseite gelegene Montevideo, kaum 50 Kilometer entfernt, das immer noch auf seine in der Altstadt gegenwärtige Candombe- und Carnevalkultur verweisen kann. Immerhin mit touristischem Attraktionswert.

Zwischen Audienzen mit Topmodel Claudia Schiffer, Madonna und Bon Jovi errang Menem seinen größten innenpolitischen Sieg: Nach monatelangen Beschimpfungen stimmte Oppositionschef und Ex-Präsident Raúl Alfonsin einer Verfassungsänderung zu, die eine für Menem relevante Neuerung vorsieht: die Möglichkeit der Wiederwahl 1995. Andere an diese Verneigung von seiten der Opposition geknüpfte Fragen werden in Unterausschüssen debattiert werden. Unter anderem steht die Umbesetzung des Obersten Verfassungsgerichts auf der Wunschliste. Ihr Oberhaupt und sein Stellvertreter sind nachweislich Mitglieder des „Opus Dei“ und in undurchsichtige Geschäfte verstrickt. Das Staatsfernsehen jedenfalls feierte den Pakt der Caudillos mit halbstündigen, kommentarlos und in Zeitlupe servierten Einstellungen ab, die beide auf einsamen Spaziergängen zeigten, Kuß, Shakehands, Blitzlichter und Staatskarossen.

Über die staatlichen oder privaten Sender (über 40 können angezapft werden) ergießen sich Telenovelas, übelster Sensationsjournalismus und hemmungslose Werbebreaks. Kaum von öffentlichem Interesse ist dagegen der Hungerstreik der Indigenas vor dem Kongreßgebäude, die Land und Rechte zurückfordern. Selbst die linke Presse erwähnt sie nur beiläufig. Die Rentner, die ein paar Blocks weiter auf dem Gehweg sitzstreiken, fanden weniger durch die Blockade einer Hauptstraße und die anschließenden Polizeiprügel ein medienwirksames Echo als vielmehr dadurch, daß ihre Vorsitzende im Handgemenge vor laufender Kamera die Perücke verlor.

Auf der Plaza de Mayo findet sich donnerstags nur noch ein Häuflein der berühmten Mütter ein. Einige der Kinder von „Verschwundenen“, die die Zeit des schmutzigen Krieges in der Obhut militärischer Adoptiveltern verbringen mußten, bekommen von denselben Gerichten, die sie vor Jahren in die Arme ihrer ursprünglichen Großeltern zurückgaben, heute immer noch einen neuen zivilrechtlichen Status verweigert. Derweil sich Argentinien gegen Australien für die WM 94 qualifiziert. Nationaler Taumel, Überschwang und Freude. Man hängt sich aus Bussen, weil das Getrommel auf dem Blechdach besser klingt. Singt, schreit, hupt, verkauft zeitgleich Fähnchen und Anstecker und Bier und Limo und Zeitungen und Schraubenziehersets und Weihnachtskarten mit der Einladung, am Wochenende ein Waisenkind auszuführen. Die dunkle Seite: vierhundert Festnahmen, zwölf Schußverletzte, einer dadurch querschnittsgelähmt, sechzig zerstörte Geschäfte.

Derweil schreit mir ein Maler, zugegebenermaßen betrunken, entgegen: Hoch lebe die Achse Argentinien–Somalia–Sizilien! Er hat heute ein Bild verkauft. Darauf, nicht ganz figurativ, der Staatspräsident, mit offenen Händen: links in der Handschale ein Berg weißes Pulver, rechts ein Batzen durch die Finger zerrinnender Dollars. Dazwischen postmoderner Schnickschnack. Wundersame Vermehrung. Er meint, daß der Glaube, daß Hitler am Südpol überlebt hat und eine ufogestützte Neokolonialisierung der Welt unter der Prämisse arisch-extraterrestrischer Vorherrschaft anstrebt, hier gegenwärtiger sei als in Deutschland. Ich gebe ihm recht, er gibt mir einen aus. Ganz un-sozialdarwinistisch.