Ein Konzept zur Verhinderung von Massenarmut könnte sie sein, die Soziale Grundsicherung. Denn in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit ist Sozialhilfe ungeeignet, die Existenz von immer mehr Menschen auf Dauer zu sichern. Von Dorothee Winden

Ein sicheres Netz gegen die Armut

Die Idee tauchte erstmals 1517 auf: Thomas Morus entwarf in seinem Buch „Utopia“ die Vision einer Gesellschaft, die allen Mitgliedern materielle Sicherheit durch Sach- oder Geldleistungen garantiert. 477 Jahre später ist die Soziale Grundsicherung immer noch Utopie – aber eine von unverminderter Anziehungskraft.

Die Debatte um eine Soziale Grundsicherung, die in den achtziger Jahren vor allem von den Wohlfahrtsverbänden, den Grünen und Sozialhilfeinitiativen geführt wurde, erfährt in den krisengebeutelten Neunzigern eine Neuauflage. Was damals nicht durchsetzbar war, wird jetzt immer dringlicher: ein Konzept zur Verhinderung von Massenarmut. 7,25 Millionen BundesbürgerInnen leben unterhalb der Armutsgrenze von 1.250 Mark; mit zunehmender Arbeitslosigkeit drohen immer mehr Menschen aus dem an Erwerbsarbeit gekoppelten Sozialversicherungssystem herauszufallen. Die Sozialhilfe, die ursprünglich zur Überbrückung vorübergehender Notlagen gedacht war, ist nicht geeignet, die Existenz von derzeit fünf Millionen Sozialhilfebeziehern auf Dauer zu sichern.

Die Vorschläge von Grünen, SPD und PDS zur Ausgestaltung der Sozialen Grundsicherung unterscheiden sich lediglich in Detailfragen, die Kernpunkte sind dieselben. Da bei SPD und Bündnis 90/Grüne die Diskussion noch nicht abgeschlossen ist, sei hier stellvertretend das Modell des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) dargestellt: Die Grundsicherung soll die Sozialhilfe ersetzen, genauer gesagt die „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“. Anspruch auf Grundsicherung hat jede Person, die über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt. Wie bei der Sozialhilfe wird ein Regelsatz festgelegt, dessen Höhe der Bundestag aufgrund einer jährlichen Empfehlung eines Sachverständigenrates verabschiedet. Außerdem sollen einmalige Leistungen wie Kleidungsbeihilfen in einen pauschalierten Zuschlag zum Regelsatz umgewandelt werden. Damit entfallen bürokratische Einzelprüfungen.

Integriert in Arbeitslosen- und Rentenversicherung

Daß die Grundsicherung deutlich über dem Niveau des jetzigen Sozialhilfe-Regelsatzes liegen soll, ist Konsens unter den BefürworterInnen, auch wenn sich derzeit niemand auf einen genauen Betrag festlegen mag. Als Richtschnur gilt die von der EU verwendete Armutsgrenze, die bei 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens liegt. Gegenwärtig wären dies 1.250 Mark. Dazu käme die volle Übernahme der Warmmiete.

Die Grundsicherung soll auch in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung integriert werden. Wer eine Rente, Arbeitslosengeld oder -hilfe bezieht und damit unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegt, bekäme den entsprechenden Differenzbetrag von der Rentenversicherung bzw. der Bundesanstalt für Arbeit ausgezahlt. Während DPWV und Bündnis90/Grüne die Grundsicherung für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger einführen wollen, will sich die SPD zunächst auf Arbeitslose, Invalide und Rentner beschränken.

Wer davon träumt, sich mit dem Geld in die Toskana abzusetzen, muß allerdings auf den unwahrscheinlichen Fall setzen, daß sich das PDS-Modell durchsetzt. Denn nur die PDS würde die Grundsicherung auch ins Ausland überweisen. Jugendliche ohne eigenes Einkommen, die von zu Hause ausziehen wollen, bekämen ebenfalls nur von der PDS die Grundsicherung zugesprochen. Während die SPD die Familiensubsidiarität nicht antasten will, wollen Grüne, PDS und DPWV sie einschränken: Erwachsene Kinder sollen nicht mehr wie bisher vom Sozialamt für den Unterhalt ihrer Eltern herangezogen werden.

Einzige Auflage für den Bezug von Grundsicherung ist die Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt – soweit nicht Erwerbsunfähigkeit oder Alter dagegen sprechen. Dies ist auch bei den Grünen nicht mehr umstritten. Sie verknüpfen die Grundsicherung zudem mit der Arbeitsmarktpolitik: Sie kann in arbeitsmarktpolitische Projekte und Initiativen eingebracht werden und soll soziale und ökologisch nützliche Arbeit außerhalb des Erwerbssektors absichern.

Während die PDS ihr Modell bereits im vergangenen Herbst in den Bundestag eingebracht hat, arbeiten Grüne und SPD noch an den Detailfragen. Bei beiden Parteien soll die Grundsicherung ins Wahlprogramm. Strittig ist bei den Grünen noch die Höhe: Während die Vertreter der „Globalalternative“ auf 50 Prozent des Nettoeinkommens bestehen, will sich der Bundesvorstand lediglich „dafür einsetzen, daß dieses Ziel (50 Prozent) möglichst bald erreicht wird“.

Auch die Regierungskoalition hat den Charme der Grundsicherung entdeckt – allerdings versteht sie darunter etwas ganz anderes: Die soziale Absicherung soll auf ein Minimum zurückgeschraubt werden, wer sich darüber hinaus versichern will, soll dies aus eigener Tasche bezahlen. Das Gegenmodell zur Grundsicherung ist die „negative Einkommensteuer“ – oder, populärer ausgedrückt, das „Bürgergeld“. CDU-Vordenker Kurt Biedenkopf hat die Idee schon Mitte der achtziger Jahre propagiert: Steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Kindergeld, Erziehungsgeld, Wohngeld und Bafög werden mit der Einkommens- oder Lohnsteuer „verrechnet“. In einem Zeitraum von fünf Jahren soll nach Vorstellungen des CDU- Arbeitnehmerflügels (CDA) auch die Sozialhilfe einbezogen werden. Wer im „Negativbereich“ liegt, bekommt vom Finanzamt das „Bürgergeld“ ausbezahlt. Ab einer bestimmten Einkommensgrenze wirkt dieses als Steuerfreibetrag.

Mit der Namensgebung hat die CDU einen Volltreffer gelandet. „Bürgergeld“, das klingt nach Rechtschaffenheit und suggeriert, daß jedes Mitglied der Gesellschaft ein Recht darauf hat – mithin also Attribute, die theoretisch auch für die Sozialhilfe gelten. Doch ist diese im Diskurs der Koalition zum Synonym für Versager und Schmarotzer geworden. Die Idee der negativen Einkommensteuer geht auf den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman zurück. Der Kronberger Kreis der CDU, der sie in den Achtzigern aufgriff, sah im „Bürgergeld“ aber schon damals ein Mittel zur Umverteilung. Ziel war, sowohl das Umverteilungssystem effektiver zu gestalten als auch „eine Senkung des Umverteilungsvolumens“.

Gegenmodell „Bürgergeld“

Heute klingt das moderater. „Ziel ist es, das Bürgergeld aufkommensneutral zu gestalten“, sagt Christa Thoben, CDU-Wirtschaftsexpertin und Mitglied einer Kommission, die derzeit an Details feilt. Ziel sei aber auch, etwa Kleinstrenten automatisch auf Sozialhilfeniveau anzuheben. Der Haken beim „Bürgergeld“ besteht jedoch darin, daß die Schwelle, ab der es ausgezahlt wird, von der Regierung festgelegt wird und damit je nach Kassenlage variabel ist.

Zwischen Schwarzen und Grünen gibt es immerhin einen Berührungspunkt: SozialhilfeempfängerInnen soll ein Anreiz zur Wiederaufnahme in den Arbeitsprozeß gegeben werden. Wer wieder Arbeit findet, muß sein Einkommen nach einem „Grenzsteuersatz“ nicht gleich zu 100 Prozent, sondern nur zu 50 Prozent versteuern; bei den Grünen sollen 20 Prozent anrechnungsfrei bleiben.

Hier hören die Gemeinsamkeiten allerdings schon wieder auf, denn während die Grünen damit den Ausstieg aus der Armut erleichtern wollen, hoffen die Konservativen, damit Druck auf Niedriglöhne auszuüben. „Ein durch das Negativsteuer-Konzept gewährleistetes Existenzminimum erhöht die Chancen der Tarifpolitik zur Flexibilität auch für Personen, die weniger leistungsfähig und produktiv sind“, heißt es in einem Papier des CDA. Dem wollen die Grünen mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und weiterer Arbeitszeitverkürzung begegnen.

Bei der FDP soll das „Bürgergeld“ ebenfalls ins Wahlprogramm, doch auch hier wird noch an Details gefeilt. Die Liberalen wollen über das CDU-Modell hinaus auch die Arbeitslosenhilfe in die „Negative Einkommensteuer“ integrieren – ein Ansinnen, das ihr von Seiten der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) den Vorwurf eintrug, das „Bürgergeld“ als „Einfallstor zur Zerschlagung des Sozialversicherungssystems“ nutzen zu wollen.

Übertriebene Hoffnungen auf eine zügige Einführung einer Sozialen Grundsicherung in Deutschland sind ganz sicher unberechtigt. Eine Chance hat das Modell ohnehin nur im Falle einer rot-grünen Koalition nach den Bundestagswahlen im Oktober. Aber auch dann steht sie – wie SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler und auch einige Grünen-Politiker betonen – „unter dem Vorbehalt eines Kassensturzes“.