Pinguine gegen Langeweile

Im magazin wird Karges „Die Eroberung des Südpols“ nett belacht  ■ Von baal

Sie sind arm und reich: Von materiellem Reichtum gänzlich verschont, braucht es eben eine reiche Phantasie, das Leben interessant zu gestalten. Da kann es schon mal vorkommen, daß der Elch von Herne, wie seine Freunde und Schicksalsgenossen ihn nennen, mit zitternden Beinen auf zwei Bierkisten und einem Motorradhelm balanciert und sich die Schlinge schon um den Hals gelegt hat. Von l'ennui hat er gelesen, in einem Buch, und darum, meint er, braucht's ihn nicht mehr.

Da ist es schon ganz günstig, daß auch der Kopf der arbeitslosen Viererbande, der aufgeweckte Benno Slupianek, „in einem Buch gelesen hat“; und weil das Buch vom Südpol handelt, an dem es vielleicht Pinguine gibt oder vielleicht auch nicht, ist die Erlösung aus der Tristesse zwischen „Asbach, Flipper und aus“ ein heißblütiger Ausflug in die Welt bitterer Kälte.

Die Eroberung des Südpols durch den norwegischen Polarforscher Roald Amundsen wird so auf einem läppischen Dachboden zum Inbegriff von Lebensinhalt und Lebensziel. Die heroische Reise in die Kälte wird zum Phantasieausflug, der die Leere vergessen machen soll, die das soziale Umfeld bildet, und die immer droht, sich in den Köpfen festzusetzen.

Die Anfechtungen sind nicht ohne. Das weiß der dicke Braukmann (Guntram Wischnewski), dem seine Frau die Hölle heiß macht, damit er endlich aufs Arbeitsamt läuft. Als wandelndes Realitätsprinzip steckt die Braukmann (Maren Thurm) auf dem Dachboden ihr Revier ab und läßt gnadenlos ihre frisch gewaschenen Laken über den First wehen. Doch vor der unbändigen Vorstellungswelt des Slupianek – witzig und brachial von Peter Flechtner typisiert – muß auch sie kapitulieren. Für den erstehen inzwischen überall weiße Eisbergwände, Gletscherspalten, und das Höllentor öffnet sich zwischen den Hosenbeinen der voluminösen Braukmann-Unterwäsche. Die Realität ist verführbar wie die Braukmann – gibt man beiden, was sie sich sehnlich wünschen. Und so stachelt Slupianek nicht nur die kindlichen Phantasievorstellungen der Männer an, sondern schwängert nebenbei auch die Braukmann, daß ihr Kinderwunsch sich erfülle.

Das Stück des ehemaligen DDR-Exilanten, Schauspielers und Regisseurs Manfred Karge entspringt einem absolut gesetzten Theaterdenken. Die Kraft der Illusion, die Berge versetzen kann, und seien sie noch so dick mit Eis und Schnee bedeckt, ist ein Kunstthema, das sich nahtlos in die Metaphorik der Bühne einpaßt. Aus dem Nichts entstehen Welten, aus fast nichts das große Leben: Die Mittel arm, die Wirkung reich. Als der Meister unlängst im Deutschen Theater sein ungeschlachtes „Arbeitslosen“-Stück aus Bochumer Zeiten wiederbelebte, atmete es noch immer den Geist der Anarchie und zwischen einem Haufen Dreck und Müll bahnten sich Eisbären den Weg.

Auf der Bühne des „magazins“ hingegen bleibt alles sauber, ja klinisch rein. Mit Akkuratesse hat Stephan Koch einen Dachboden geschaffen, der Realität vortäuscht und auf dessen Teppich schon eine ausgespuckte Kartoffel wie ein böser Antagonismus wirkt. Die Truppe der Schauspieler unter der Leitung von Axel Schneider gibt sich alle Mühe, den Elan der Phantasie aufzubieten. Dabei hilft vor allem die kryptische Lyriksprache Karges, der das hernische Idiom in Kunstsprache zu verwandeln weiß und mit herrlichen Wortverstellungen aufzutrumpfen versteht. Doch als wäre die kleine Bühne zu eng, drängeln sich mitunter acht Personen und finden wenig Platz zum Anlauf, um über die gefährlichen Klippen und Spalten des Stücks hinwegzufinden.

Vor die überbordende Phantasie und vor nebulöse Sozialkritik ward hier der Humor gesetzt, der sich mit leutseliger Biederkeit in Szene setzt, so daß etwa die Verbrüderungslieder zum Musical- tauglichen Schmankerl verkommen können. Das Publikum tut ein übriges und lacht und applaudiert auch da, wo bittere Stille auf der Bühne einkehrt: Büscher (Stephan Koch) hat das Vorwort in Slupianeks Buch gelesen und dort von der gescheiterten Expedition des Scott erfahren. Doch sein Appell, sich mit dieser Niederlage zu identifizieren, die dem eigenen Schicksal so viel näher kommt, verpufft zu einer Art rührendem Zerwürfnis, das erst durch die blanken Fotos eines Südpoltouristen zur Einigkeit zurückfindet. Daß Slupianek am Ende mit seiner Phantasie allein bleibt, daß der Elch von Herne schließlich doch über die unbezwingbare Gletscherspalte springt – all das bleibt freundlich, allzu freundlich eingebettet in schmerzlose Theaterseligkeit. Schade.

„Die Eroberung des Südpols“ von Manfred Karge. Regie: Axel Schneider, Bühne: Stephan Koch. Mit Dirk Dobbrow, Peter Flechtner, Jochen Kirchner u.a. Mi-So, 20.30 Uhr, magazin-Theater, Kurfürstendamm 206, Charlottenburg