■ Hermann Hiller
: Herr der Maßanzüge

Geteert und gefedert, so wurden mittelalterliche Folteropfer mißhandelt. Zu Teer und Straßensplitt griff auch er bereits: Hermann Hiller, Münchner, Architekt und Kunsthochschulabsolvent. Doch mit Folter hat seine Kunst wenig zu tun – vielmehr ist sie ein Brückenschlag zwischen Bildhauerei und Alltagsmode. Sein Grenzgang ist das einzige Highlight, das auf der AVE das Prädikat „Off- Mode“ wirklich verdient. Denn: Hillers Kreationen stehen dem reinen Wortsinne entsprechend tatsächlich „außerhalb“ der Mode. Sie sind keine Mode und werden es nie sein, tragbar allerdings sind seine Kunstwerke wohl.

1988 war es, als seine Skulpturen mit dem „Straßenanzug“ aus Teer und Splitt das Laufen lernten. Ursprünglich hatte Hermann Hiller Kleidung mit dem Pinsel zur Leinwand werden lassen. Heute gestaltet er über den besonderen „Stoff“ skulpturell. Die Idee ist dieselbe: Tote, unbewegte Kunst soll zum Leben erweckt werden, soll den Status des Endgültigen verlieren. Es ist „Straßenkunst“, und doch haben seine Werke den Habitus des herausragenden Präsentierens: Der Träger, die Trägerin, sie fallen immer auf – schlimmstenfalls „ernten“ sie fliegende Bierdosen.

Kleine Unbequemlichkeiten sind die Regel für diejenigen, die mit Hiller-Kreationen auffallen wollen. Zehn Kilo schwer war beispielsweise die erste Straßenrüstung, die den Träger permanent an seine modische zweite Haut erinnerte. Bisher allerdings konnte Hiller noch niemanden überzeugen, den Straßenanzug zu tragen.

Dem „Straßenanzug“ folgten inzwischen etliche Kleidungsstücken, die stets durch das Muster der abweichenden und doch passenden bildlichen Gestaltung „gewöhnlicher“ Benennungen zum Ereignis werden. Der „Tropenanzug“ ist aus einer Landkarte tropischer Regionen geschneidert, unzählige Maßbänder vereinen sich zum „Maßanzug“, und sechs Zeitungsausgaben ergeben nach demselben Muster einen „Eintagesanzug“. Damen und Könige aus 60 Kartenspielen indes verweben sich im Zickzackkurs zum würdevollen „Damen-“ und breitschultrigen „Königskleid“. Das Spiel ist schön, und auch die „Spielkleider“ aus Roulett-, Spiel- und Schachbrettfilz sind es. Ein letztes Beispiel: Der „Hausanzug“ ist aus jenem durchsichtigen Plastiknetz, das während Bauarbeiten vor fallendem Putz schützt.

Da Hiller die Modelandschaft bereits so frech geteert und durchforstet hat, sei ihm hiermit symbolisch ein Federkleid für inspirierte Gedankenflüge gewidmet (auch wenn die Schreiberzunft nicht mehr mit Federn arbeitet). Auch wenn ihm das AVE-Publikum keinen Preis zukommen ließ, ist er doch der beste Beweis dafür, daß Innovation, auch wenn sie hier „nur“ anwendungs-, sinn- und zweckfrei ist, den Blick von außen notwendig hat. Handwerkliches Fachwissen und Zweckdenken indes endet, wie auf der AVE zu sehen war, oft in der Sackgasse oder im Stau des Mainstream. peb